Zu Besuch bei Daniel Scheier
Ein Exot unter Betriebsökonomen
Lea Müller
Alumnus Daniel Scheier ist stellvertretender Leiter des Psychiatrie-Zentrums Rhein - tal. Der Betriebsökonom mit Spezialisierung Marketing hat ganz bewusst auf einen Karriereweg in der Privatwirtschaft verzichtet – und stattdessen einen Weiterbildungsmaster in Sozialer Arbeit gemacht.
Ein Ehepaar, das mit seinen Problemen nicht mehr weiterweiss. Eine junge Frau, die unter ihrem unerfüllten Kinderwunsch zunehmend leidet. Ein Mann, der wegen seiner Depression nicht weiter arbeiten kann. Eine Pensionärin, die ob ihrer Demenzerkrankung fast verzweifelt. Für Menschen mit psychischen Problemen oder seelischen Krisen ist das Psychiatrie-Zentrum Rheintal in Heerbrugg eine wichtige Anlaufstelle. Auch Daniel Scheier fährt jeden Tag mit seinem Fahrrad hierher. Aber aus beruflichen Gründen: Der 44-Jährige ist stellvertretender Leiter des Psychiatrie-Zentrums und als Bereichsleiter Infrastruktur und Organisation für die Gestaltung, Lenkung und Weiterentwicklung der betrieblich-administrativen Aufgaben sowie für Finanzen und Controlling zuständig. Eine Funktion, die Daniel Scheier eigentlich auch in einem Unternehmen der Privatwirtschaft übernehmen könnte. Warum also gerade in einer Gesundheitsinstitution?
Ressourcen statt Defizite
Während seines Betriebsökonomiestudiums an der FHS St.Gallen hatte Daniel Scheier nicht geplant, später im Sozial- oder Gesundheitswesen tätig zu sein. Er begann seinen beruflichen Werdegang nach der FHS als Leiter Innendienst in einem Rheintaler Industrieunternehmen. Schon bald regten sich in ihm aber Zweifel. Das vorwiegend linear geprägte Leistungsdenken in der Privatwirtschaft entspreche ihm nicht, sagt er. «Im Mittelpunkt des Geschehens stehen zu oft Finanz- und Kennzahlen.» Zudem sollte seiner Meinung nach ein ressourcen- und nicht defizitorientiertes Menschenbild vorherrschen.
Daniel Scheier kehrte der Privatwirtschaft den Rücken und trat eine Stelle als administrativer Leiter beim «förderraum» in St.Gallen an. Im Servicebüro mit Mitarbeitenden mit und ohne Beeinträchtigung fand er seine eigenen Wertvorstellungen bestätigt. Als Ausbildner von Lernenden hatte er zudem die Möglichkeit, Personen mit unterschiedlichsten Beeinträchtigungen zu fördern. «Die vorbildliche Arbeitshaltung dieser Menschen hat mich stets beeindruckt. Sie legen ein hohes Engagement an den Tag, wollen sich beruflich und kompetenzmässig weiterentwickeln und bauen beachtenswerte Ressourcen auf, um ihre Beeinträchtigung zu kompensieren», sagt er. Die Genugtuung und Freude sei jeweils gross gewesen, wenn einer der Lernenden in den ersten Arbeitsmarkt integriert werden konnte.
Im Mittelpunkt des Geschehens stehen zu oft Finanz- und Kennzahlen.
Kein Weg zurück
«Wenn du im sozialen Bereich Fuss gefasst hast, bist du schon irgendwie ein Exot unter den anderen Betriebsökonomen», sagt Daniel Scheier und schmunzelt. Nach drei Jahren beim «förderraum» überlegte er sich deshalb gründlich, ob er den eingeschlagenen Weg weiterverfolgen oder doch in die Privatwirtschaft zurückkehren sollte. Irgendwann gebe es kein Zurück mehr, ist er überzeugt. Schliesslich kam er zum Schluss: «Das Sinnhafte ist für mich wichtiger als der Verdienst.» Bewusst verzichtete er auf andere Karrieremöglichkeiten in der Privatwirtschaft. Stattdessen entschied er sich, seine Kenntnisse der Sozialen Arbeit zu vertiefen und begann an der FHS St.Gallen ein Weiterbildungsstudium in Management of Social Services. Das Studium mit Schwerpunkten auch in Sozialpolitik und Ethik habe ihm neue Impulse gegeben, sagt er rückblickend.
Ein Markt, wo kein Markt ist
Inzwischen Leiter Finanzen von «förderraum», kam Daniel Scheier in Kontakt mit dem Psychiatrie-Zentrum Rheintal. Es ging darum, ein gemeinsames Angebot für Menschen mit einer psychischen Beeinträchtigung zu schaffen. «Diese einzigartige Kooperation zwischen einer sozialen Institution und einer Psychiatrie hat mich begeistert, weil es eine Lücke zwischen Arbeit und Behandlung von psychisch beeinträchtigten Menschen schliesst – beides findet vor Ort und mit vielen Berührungspunkten statt», sagt er. Der im Rheintal lebende Vater zweier Teenager trat 2012 seine heutige Stelle als Bereichsleiter Infrastruktur und Organisation im Psychiatrie-Zentrum Rheintal an. Er arbeite nun zwar nicht mehr direkt mit Menschen mit einer psychischen Beeinträchtigung zusammen, schaffe mit seiner Arbeit aber die Grundlage dafür, dass Patientinnen und Patienten möglichst gute Verhältnisse und Rahmenbedingungen vorfänden, sagt er. Das Gesundheitswesen als Arbeitsumfeld habe ihn aus denselben Gründen wie das Sozialwesen gereizt: Einerseits wegen der Wertevorstellungen. Andererseits aber auch wegen der Aufgabe, betriebswirtschaftliches Denken in einer Branche zu adaptieren, wo kein Markt im herkömmlichen Sinne vorherrsche, sondern versucht werde, mittels künstlichem Markt Anreize und Kostenkontrolle zu schaffen.
Vielfalt fordert Interdisziplinarität
Als eine der grössten Herausforderungen seiner Arbeit bezeichnet Daniel Scheier den Fokus auf Wirtschaftlichkeit und Prozessoptimierung im Gesundheitswesen. «In der Psychiatrie bewege ich mich im Spannungsfeld der Bereiche Pflege, Medizin und Verwaltung, die sich gegenseitig brauchen, aber auch immer wieder unterschiedliche Vorstellungen und Prioritäten vertreten.» Kostensenkungen und erhöhte Leistungsvorgaben stehen dem pflegerischen Fokus auf den einzelnen Patienten und einer möglichst hohen Behandlungsqualität gegenüber. Die Vielfalt der Berufe in der Psychiatrie erfordere eine Zusammenarbeit in interdisziplinären Teams, gegenseitiges Verständnis und Fingerspitzengefühl, sagt Daniel Scheier.
Kampf gegen Etiketten
Das Interesse für Menschen mit einer Beeinträchtigung zieht sich wie ein roter Faden durch Daniel Scheiers beruflichen Werdegang. «Der Abbau von Stigmatisierung dieser Menschen ist mir ein grosses Anliegen, weil sie häufig zu Unrecht ein Etikett angeheftet bekommen, das ihnen wenig Kompetenzen und Leistung bescheinigt», betont er. Daniel Scheier spricht aus persönlicher Erfahrung: Einer seiner beiden Söhne lebt seit seiner Geburt mit einer starken Hörbeeinträchtigung. Eine Spezialistin hatte einst prognostiziert, dass der Junge keine normale Schule und Ausbildung durchlaufen könne, weil die Sprachentwicklung durch die massive Hörbeeinträchtigung zurückbleiben werde. Heute steht der junge Mann im dritten Ausbildungsjahr als Kaufmann M-Profil. Er habe sich nie als «beeinträchtigt» gefühlt und sich unbewusst Fähigkeiten wie zum Beispiel Lippenlesen angeeignet, die ihm im Alltag geholfen hätten, erzählt sein Vater. «Wahrscheinlich hat diese Haltung verhindert, dass ihm heute eine entsprechende Etikette anhaftet.»
Dem Kampf gegen Etiketten für Menschen mit Beeinträchtigungen ist Daniel Scheier auch in seiner Masterarbeit «Sozialfirma als Alternative zum ersten Arbeitsmarkt?» nachgegangen: «Ich habe in meiner beruflichen Laufbahn in sozialen Unternehmen die Erfahrung gemacht, dass viele gute Mitarbeitende im zweiten Arbeitsmarkt mit jenen im ersten Arbeitsmarkt mithalten können, wenn die Rahmenbedingungen auf sie abgestimmt sind und sie das Vertrauen der Firma und ihres Vorgesetzten spüren.» Eine Sozialfirma schaffe Arbeitsplätze für Menschen mit eingeschränkter Leistungsfähigkeit. Diese arbeiteten im Wettbewerb mit Unternehmen des ersten Arbeitsmarktes mit Menschen ohne Beeinträchtigung zusammen. In seiner Masterarbeit kommt Daniel Scheier zum Schluss, dass dies nicht nur für die beteiligten Mitarbeitenden, sondern auch volkswirtschaftlich einen Sinn macht. Eine Schlussfolgerung, die ihn bis heute nicht loslässt: «Diese Thematik brennt immer noch in mir.»