Archivausgabe
Erkenntnis

Zwischen Schickeria und Stammtisch

Malolo Kessler

Er ist ein Bauernbub, ein Unterländer. Und ein parteiloser Quereinsteiger: Sigi Asprion ist seit fünf Jahren Gemeindepräsident von St.Moritz. Er spricht darüber, was er für sein Amt an der FHS St.Gallen gelernt hat – und wieso ihn das Cüpli-Image seiner Gemeinde «so richtig nervt».

Vier Bauarbeiter sitzen auf einem Bänkli und essen ein Gipfeli. Eine Dame mit überdimensionierter Markensonnenbrille geht vorbei, bleibt dann vor einem Schaufenster stehen. Die Kleider hinter dem Sicherheitsglas tragen keine Preisschilder. Der Kaffee zum Mitnehmen in der Confiserie nebenan kostet hingegen nur ein bisschen mehr als drei Franken: St. Moritz ist eine Gemeinde der Gegensätze. Hier Chihuahuas und Champagner, Dekadenz und Prominenz. Und dort Schulkinder und Saisonarbeiter, Bodenständigkeit und Brauchtum. Eine Gemeinde, die von 5’700 Einwohnern in der Nebensaison auf ein Städtchen mit 25’000 Einwohnern in der Hochsaison anwächst. Eine Gemeinde, die sich selbst als «Top of the world» bezeichnet – und an deren Spitze, zwischen zwei Extremen, Gemeindepräsident Sigi Asprion steht. Ein Unterländer, ein Bauernbub. Ehemaliger Hotelier, Ski- und Töfffahrer. Ausgewogen, ambitioniert, analytisch, parteilos. Und manchmal so richtig genervt. Davon, dass seine Gemeinde ein solches Image hat, das «Cüpli-Image», wie er es nennt.

Auch ein ganz normales Dorf

Asprion sitzt in seinem Büro im Rathaus. Viel dunkles Holz, Teppichboden. Er trägt ein rot-schwarz kariertes Hemd, das Haar unfrisiert, spricht langsam, überlegt. «Mir tut es manchmal richtig weh, wenn man St.Moritz einfach auf den Jetset reduziert», sagt er. «Wir sind das schon, wir sind teuer, wir haben Snobs. Aber wir sind nicht nur das. Wir sind auch einfach ganz ein normales Dorf, hier leben Menschen.» Er frage sich deshalb manchmal schon, weshalb an Pferderennen genau die eine Dame mit Schosshund und Pelzmantel fotografiert werde – «und die übrigen 2’000 Besucher, normale Besucher, ignoriert man». Der 56-Jährige ist seit fünf Jahren Gemeindepräsident, ein Quereinsteiger.

Aufgewachsen auf einem Bauernhof im Laufental, machte er in Basel eine Lehre als Koch, absolvierte dann die Hotelfachschule. Er hat in Genf und Los Angeles gelebt, aber «den Tritt», sagt er, habe er in einer Stadt nie gefunden. Vor etwas mehr als 30 Jahren zog es ihn dann ins Engadin. «Eines der schönsten Täler der Schweiz. Und: Joggen in einem Stadtpark wäre mir ein Graus.» In St.Moritz leitete er 17 Jahre lang mit seiner Frau ein Viersternehotel, wurde dann Direktor des Spitals Samedan. Und nun das Gemeindepräsidium. Weshalb er damals für das Amt kandidierte, wisse er gar nicht richtig. «Mich hat einfach interessiert, dass es eine touristische Gemeinde ist, das war’s vermutlich.»

Gemeindeentwicklung

Sigi Asprion an der Spitze der Gemeinde St.Moritz, die sich selbst als «Top of the world» bezeichnet.

Mir tut es manchmal richtig weh, wenn man St.Moritz einfach auf den Jetset reduziert.

Viel über Kommunikation gelernt

Nach seiner Wahl absolvierte er den Zertifikatslehrgang «Gemeindeentwicklung» an der FHS St.Gallen (siehe Infobox). Er als Quereinsteiger habe dadurch viel Sicherheit gewinnen können, was beispielsweise die komplexen Abläufe auf einer Gemeindeverwaltung angingen. Ebenfalls wichtig sei der Austausch mit den anderen Teilnehmenden gewesen, also anderen Gemeindepräsidenten. Ein Thema, mit dem er sich besonders gerne beschäftigt habe, sei Kommunikation gewesen. «So haben wir nach dem Lehrgang den ‹Fokus› aufgegleist, eine Gemeindezeitschrift, die drei bis vier Mal pro Jahr erscheint.» Ausserdem hätten sie Verbesserungen am Onlineauftritt des Ortes vorgenommen. Von Social Media lasse das Bergdorf aber die Finger: «Ich habe zwar einen persönlichen Facebook-Account, den nutze ich allerdings nur, um ab und zu ein bisschen zu schauen, was andere machen.»

Meiner Meinung nach müsste man eine Gemeinde wie ein Unternehmen führen können.

Vielseitig, aber geregelt

Es ist vor allem die Vielseitigkeit, die Asprion an seinem Amt schätzt. Dass er mit den verschiedensten Stellen, den unterschiedlichsten Menschen zusammenarbeite. Dass er mit vielerlei Themen und Ideen in Berührung komme, dass er dadurch immer wieder Neues über zahlreiche Gebiete lerne. Und der Gemeindepräsident schätzt auch, dass er sich einsetzen kann für die Entwicklung des Ortes. Mühe hat er nach wie vor damit, es nicht allen recht machen zu können. Und auch mit dem «sehr reglementierten Schweizer Staat». «Es ist nicht einfach, Initianten von guten Ideen wehtun zu müssen, weil sie aufgrund von Gesetzen gute Ideen nicht verwirklichen können.» Zudem habe sich das Berufsbild des Gemeindepräsidenten in den letzten Jahren ziemlich verändert. «Meiner Meinung nach müsste man eine Gemeinde wie ein Unternehmen führen können», sagt Asprion. Mit dieser Absicht habe er auch damals sein Amt angetreten. Nur sei das Problem, dass die Wege auf einer Gemeinde oft viel länger und komplexer seien als in der Privatwirtschaft. Hinzu komme, dass die Schnelllebigkeit stetig zunehme, die Daten- und Kommunikationsflut, und damit der Zeitdruck. «So ist es eigentlich nicht verwunderlich, dass sich immer weniger Leute finden lassen, die sich dem Ganzen aussetzen, vor allem nebenamtlich.»

Weiter hätten Tourismusgemeinden wie St.Moritz derzeit mit der Frankenschwäche zu kämpfen. Asprion befürchtet, dass das auch noch eine Weile so bleiben wird. Und obwohl er sich im Gegensatz zu anderen Gemeindepräsidenten finanziell in einer hervorragenden Situation befindet, auch hier müsse man sparen.

Alle kommen nie zurück

Asprion selbst lebt ebenfalls sparsam: Er wohnt mit seiner Frau, die das Sozialamt der Gemeinde leitet, im Dorfteil für die Normalsterblichen, in St.Moritz-Bad. Die beiden Töchter, 22 und 25 Jahre alt, studieren im Unterland, die eine in Chur, die andere in St.Gallen. «Die Abwanderung ist für Berggemeinden halt auch immer ein Problem», sagt Asprion. «Hier oben» habe man bis und mit Matura hervorragende Ausbildungsmöglichkeiten und auch diverse Freizeitangebote. Zudem profitiere die Jugend von der multikulturellen Durchmischung: Im Dorf wohnen viele Kinder portugiesischer und italienischer Einwanderer, die in der Hotellerie arbeiten. «Es gibt viele Junge, die in der Bau- oder Tourismusbranche arbeiten, die hier oben bleiben. Oder nach einigen Jahren im Unterland wiederkommen. Aber alle kommen nie zurück nach einem Studium, weil es hier schlicht nicht alle Berufe gibt.»

Asprion selbst, dem Mann der vielen beruflichen Wechsel, wäre ein weiterer ohne Weiteres zuzutrauen. «Aber wer weiss, vielleicht kandidiere ich auch noch für eine weitere Amtszeit – mir gefällt es jedenfalls nach wie vor», sagt Asprion und lächelt. Was er ganz sicher weiss: Dass er hier in St.Moritz alt werden möchte. Denn sein Herz hat er schon längst verloren, an dieses schöne Tal. Und an diese Welt im Wechsel zwischen Schickeria und Stammtisch.

Gemeindeentwicklung lernen

Seit gut eineinhalb Jahren gibt es an der FHS St.Gallen ein Ostschweizer Zentrum für Gemeinden. Die interdisziplinäre Fachstelle unterstützt Gemeinden bei kommunalen Fragestellungen: dies in Form von Beratungsmandaten, Projektbegleitungen, Forschungsprojekten, Weiterbildungsangeboten oder Studierendenprojekten. Zudem bietet das Weiterbildungszentrum der FHS St.Gallen in Zusammenarbeit mit der Vereinigung St.Galler Gemeindepräsidentinnen und Gemeindepräsidenten und dem Verband Thurgauer Gemeinden den Zertifikatslehrgang Gemeindeentwicklung an. Er richtet sich an Gemeindepräsidentinnen und Gemeindepräsidenten und behandelt unter anderem Themen wie Medien und Politik, Projektmanagement, Trends sowie Krisen- und Konfliktmanagement. Weitere Informationen unter www.fhsg.ch/ gemeindeentwicklung (mke)