Archivausgabe
Erkenntnis

Beim Wandern das Vergessen vergessen

Lea Müller

Alle zwei Wochen geht in St.Gallen eine Gruppe von Menschen mit Demenz auf Wanderschaft. Forscherinnen der Fachstelle Demenz möchten herausfinden, wie sich die regelmässige Bewegung auf den Alltag der Betroffenen auswirkt. Erste Erkenntnisse deuten auf mehr Eigenständigkeit und eine bessere Mobilität der Demenzerkrankten hin. Das Projekt wirkt nach – auch im Privaten.

Er war ein leidenschaftlicher Wanderer – und nicht die einfachen Touren waren sein Ziel, sondern die Berggipfel. Bei einer Wanderung vor drei Jahren blieb er dann plötzlich und ohne Erklärung stehen und weigerte sich, weiterzugehen. «Etwas stimmt nicht», erkannte seine Frau, als er auch zu Hause teilnahmslos und schweigsam war. Sie schickte ihn zum Arzt und nach mehreren Untersuchungen dann die Diagnose Demenz. Mit 65 Jahren. Der schnelle Krankheitsverlauf bedeutete für die Familie eine grosse Herausforderung. Der einst bewegungsfreudige Ehemann und Vater war bald auf sein Haus und den engeren Umkreis beschränkt. Eine Ärztin der Memory Clinic machte seine Ehefrau schliesslich auf das Forschungsprojekt «Wandern für Menschen mit Demenz» der Fachstelle Demenz an der Fachhochschule St.Gallen aufmerksam. Alle zwei Wochen an einem Mittwochnachmittag unternehmen Menschen mit leichter und mittelschwerer Demenz gemeinsam eine Wanderung – begleitet von Forschenden, Pflegefachpersonen sowie freiwilligen Helferinnen und Helfern. Im Raum St.Gallen läuft seit diesem Frühling bereits die zweite «Staffel», finanziert von der Ria & Arthur Dietschweiler Stiftung.

Bei jedem Wetter unterwegs

Sechs von neun Teilnehmerinnen und Teilnehmern der ersten Staffel sind nach einer kurzen Winterpause wieder mit dabei. Freudig ist das Wiedersehen beim Treffpunkt an der Fachhochschule – die Beteiligten haben sich im vergangenen Jahr kennen und schätzen gelernt. Schnell haben sich Zweiergruppen gebildet. Jeder und jede Betroffene wird von einem oder von zwei freiwilligen Helferinnen und Helfern begleitet. In der Gruppe sind auch neue Wanderinnen und Wanderer. Für die Angehörigen heisst es jetzt Abschiednehmen. Ausser für eine Frau. Ihre Mutter möchte wieder nach Hause. «Mir ist es draussen zu kalt», sagt diese kurz vor Start. «Ich will mich doch nicht erkälten.» Das komme selten vor, sagt Susi Saxer, Initiantin des Wanderprojekts und Leiterin der Fachstelle Demenz. Sie betont, dass die Wanderungen mit entsprechender Ausrüstung grundsätzlich bei jedem Wetter stattfinden. «Es ist wichtig, dass die Angehörigen den freien Nachmittag fix einplanen können.» Viele würden ihre Partnerinnen und Partner oder Eltern nämlich zu Hause betreuen, seien rund um die Uhr im Einsatz und hätten durch dieses kostenlose Angebot regelmässig ein paar Stunden Zeit für sich.

Die Auswertungen nach der ersten Staffel zeigen, dass die Wanderungen den Angehörigen eine grosse Entlastung bringen. Die Forscherinnen der FHS haben aber noch andere Ziele. Sie möchten herausfinden, wie sich die regelmässige Bewegung auf die Lebensqualität der Menschen mit Demenz auswirkt. «Wir testen, ob das Wandern einen positiven Einfluss auf die Mobilität und die Alltagsaktivitäten hat», sagt Susi Saxer.

Die Ergebnisse des Forschungsprojekts werden im kommenden Herbst vorliegen. Aus ersten Beobachtungen und Interviews mit den Angehörigen kann das Team aber jetzt schon Rückschlüsse ziehen. Fast bei allen Teilnehmenden der ersten Staffel ist gemäss Susi Saxer der Zustand stabil geblieben. Einen unmittelbaren Einfluss hatte die Wandergruppe insbesondere auf einen Mann, der anfangs sehr schlecht zu Fuss gewesen war, gegen Ende der ersten Staffel aber gut mitwandern konnte. Einige Menschen mit Demenz hätten auch ein Stück Eigenständigkeit und Unabhängigkeit zurückerhalten, ergänzt Susi Saxer und erzählt von einer Angehörigen, die ihrem demenzerkrankten Ehemann wieder zutraut, dass er die Postautofahrt von St.Gallen nach Hause alleine unternehmen kann.

EIN BEITRAG FÜR DIE GESELLSCHAFT

Sanna Benz ist eine der freiwilligen Helferinnen und Helfer des Forschungsprojekts «Wandern für Menschen mit Demenz». Die ehemalige Mitarbeiterin im Fachbereich Soziale Arbeit der FHS St.Gallen berichtet im Interview, wie sie die regelmässigen Wanderungen erlebt und was sie besonders beeindruckt.

Frau Benz, warum machen Sie beim Wanderprojekt mit?

Sanna Benz: Eine Kollegin des Fachbereichs Gesundheit hat mich angefragt. Da ich aber keine pflegerischen Kenntnisse und auch kaum Erfahrung im Umgang mit Menschen mit Demenz hatte, zögerte ich zuerst. An einer Informationsveranstaltung für die Helferinnen und Helfer merkte ich dann, dass ich mir das sehr wohl zutrauen kann.

Wie haben Sie die erste Wanderung erlebt?

Benz: Beim ersten Mal habe ich zusammen mit einer Pflegefachperson einen demenzkranken Mann begleitet. Das war ein guter Einstieg für mich. Bei den ersten Wanderungen war dieser Herr nicht gut zu Fuss und je nach Wegabschnitt auch unsicher. Das hat sich aber von Mal zu Mal verbessert. Das ist schön zu sehen.

Welche Veränderungen haben Sie bei den Wanderinnen und Wanderern sonst noch beobachtet?

Benz: Beeindruckt hat mich ein Erlebnis kurz nach Abschluss der ersten Wander-Staffel. Zur Weihnachtszeit traf ich in der Stadt St.Gallen einen der Wanderer mit seiner Ehefrau. Er erkannte sofort, dass ich zur Wandergruppe gehöre und begrüsste mich. Das hat mich erstaunt, denn seine Demenz ist bereits fortgeschritten und bei den Wanderungen hatte ich ihn nie direkt begleitet.

Haben Sie bei den Wanderungen auch schwierige Situationen erlebt?

Benz: Persönlich habe ich das nicht erlebt. In der Gruppe hat es ein- bis zweimal eine Situation gegeben, in der sich eine Person weigerte, weiterzugehen. Sofort waren aber Pflegefachpersonen zur Stelle, die die Betroffenen aus der Blockade führen konnten. Mit aggressivem Verhalten waren wir bislang nie konfrontiert – im Gegenteil.

Wie finden Sie das Wandern in der Gruppe?

Benz: Wir sind als Gruppe stark zusammengewachsen, auch unter den Helferinnen und Helfern. In der Kaffeepause entsteht jeweils ein schöner Austausch.

Das Forschungsprojekt ist im Herbst abgeschlossen. Möchten Sie sich weiterhin für Menschen mit Demenz engagieren?

Benz: Ja, das kann ich mir sehr gut vorstellen – in welchem Rahmen auch immer. Für mich bedeutet die Zusammenarbeit mit Menschen mit Demenz auch, völlig im «Hier und Jetzt» zu sein. Man passt sich dem Rhythmus des Gegenübers an, nimmt alles Schritt für Schritt. Ich sehe die Bedeutung unseres Engagements auch darin, einen Beitrag für die Gesellschaft zu leisten. Es gibt in der Bevölkerung noch viele Berührungsängste. Menschen mit Demenz sollten in unserem Alltag sichtbarer und selbstverständlicher werden.

Interview: Lea Müller

Fast 30 Jahre Altersunterschied

Die Altersunterschiede in der Wandergruppe sind gross: Der älteste Teilnehmer ist 91 Jahre alt, die jüngste Teilnehmerin hat Jahrgang 1949. Auch die körperliche Fitness ist unterschiedlich, was ebenso bei der ersten Wanderung in diesem Jahr zum Wildpark Peter und Paul deutlich wird: An der Spitze der Gruppe marschieren zwei Frauen strammen Schrittes voraus. Susi Saxer und eine Helferin mit gelber Weste bilden das Schlusslicht und haben die Gruppe im Blick. «Manchmal bilden wir auch bewusst zwei bis drei kleine Gruppen oder passen die Länge der Wanderungen an.» Zwei etwa 70-jährige Herren nehmen es eher gemütlich und unterhalten sich angeregt. Es sind zwei ehemalige Beizer, die sich schon seit ihrer Jugendzeit kennen. Der eine hat Demenz, der andere besucht ihn oft und begleitet ihn auch bei den Wanderungen. «Die Krankheit blieb lange unbemerkt. Sein Verhalten war eigentlich unauffällig», erzählt der Freund. «Erst als ich in seiner Wohnung das heillose Durcheinander sah, schöpfte ich Verdacht.»

In der Zvieripause im Restaurant Peter und Paul herrscht eine fröhliche Stimmung. Die Wanderinnen und Wanderer unterhalten sich, zwei Frauen stimmen ein Lied an. «Viele Angehörige berichten uns, dass die Betroffenen nach der Wanderung zufriedener sind und sogar regelrecht aufblühen», erzählt Melanie Burgstaller, wissenschaftliche Mitarbeiterin der Fachstelle Demenz. In der Wandergruppe erhielten die Betroffenen neue Kontaktmöglichkeiten und Abwechslung in ihrem Alltag. «Mich beeindruckt, welch grossser Zusammenhalt in der Gruppe entstanden ist.»

Mehr Sicherheit gewonnen

Viele der Helferinnen und Helfer hatten vor dem Wanderprojekt wenig Berührungspunkte mit Demenz. Die Schulung und Begleitung durch die Pflegefachexpertinnen der FHS St.Gallen haben ihnen Sicherheit gegeben. Für Susi Saxer ist damit ein weiteres Ziel des Forschungsprojekts erreicht. «Nicht zuletzt möchten wir auch einen Beitrag leisten, um die Gesellschaft für den Umgang mit Menschen mit Demenz zu sensibilisieren.» Das Forschungsprojekt wirkt nach: Ein Ostschweizer Pflegeheim hat sich für eine eigene Spaziergänger-Gruppe inspirieren lassen. Und auch privates Engagement ist entstanden: Die Helferin Annemarie Hofer aus Uzwil begleitet in der Gruppe jeweils den demenzerkrankten 68-jährigen Mann, der früher gerne zu Berg ging und das Wandern heute wiederentdeckt hat. Obwohl er kaum spricht, hat sie einen guten Draht zu ihm gefunden. So gut, dass sie auch privat ab und zu einen Ausflug mit ihm macht oder mit ihm Puzzle spielt. «Dass wir Annemarie kennen gelernt haben, ist ein Glücksfall für mich», sagt seine Ehefrau.