Archivausgabe
Brennpunkt

Dabei-sein-dürfen statt mitleiden

Lisa Brunner/Lea Müller

Das Leben hat durch seine «Endlichkeit» eine unausweichliche Grenze, die allen Menschen gemeinsam ist. Im Roundtable-Gespräch diskutieren die drei Fachexperten Daniel Büche, André Fringer und Franz Kreissl über das Leben und das Sterben, wie Menschen mit dieser Grenze umgehen, und wie sie das Begleiten erleben.

Die Grenze des Lebens gedanklich fassen zu können, ist schwierig. Wie gelingt das Ihnen als Fachpersonen?

Daniel Büche: Die vielleicht grösste Grenze im Leben setzt uns das Denken selbst. Mit der Wissenschaft gehen wir immer wieder bis an die Grenzen, loten sie aus. Wir können sie ausdehnen, aber wirklich zu Ende denken – das können wir nicht. So ist es auch mit der Lebensgrenze. Ich persönlich bin gespannt, was danach kommt. Ich weiss es nicht und das fasziniert mich.

Franz Kreissl: Wir können immer nur mit den Vorstellungen und Begriffen, die wir in uns haben, an die Lebensgrenze denken. Und da stossen wir naturgegeben an eine Grenze. Leben und Sterben gehören für mich eng zusammen. Zu leben bedeutet für mich auch zu lernen, mit Grenzen zu leben und loslassen zu können.

André Fringer: Die Grenze schlechthin gibt es meiner Meinung nach nicht. Es kommt auch hier auf die Perspektive an: Aus vielen Gesprächen mit Angehörigen habe ich die Erkenntnis gewonnen, dass wir nicht für uns selber sterben, sondern für andere. Damit meine ich, dass die Zurückgebliebenen sich mit dieser Grenze auseinandersetzen müssen, wenn der Sterbende sie bereits überwunden hat.

Sie haben täglich mit Menschen zu tun, die mit der Grenze zwischen Leben und Sterben konfrontiert sind. Wie erleben Sie deren Umgang damit?

Fringer: Mit der Sterblichkeit ist es ähnlich wie mit der Rente: Wir schieben das so lange vor uns her, bis es für uns oder unser Umfeld aktuell wird. Wenn wir mit der eigenen Endlichkeit konfrontiert sind und die vermeintliche «Ewigkeit» beendet sehen, überwinden wir einen Punkt, der andere Perspektiven ermöglicht. Das habe ich bei der Begleitung todkranker Menschen und ihren Angehörigen oft erlebt. Zwei Wochen können dann sehr viel oder noch alles bedeuten.

Büche: Eine lebensbedrohliche Erkrankung bedeutet einen Wendepunkt im Leben eines Menschen. In einer ersten Phase nutzt man Therapiemöglichkeiten und lernt, mit der Erkrankung umzugehen. Wenn die letzte Lebensphase kommt, folgt die Auseinandersetzung mit dem Sterben und meist – das gibt mir Hoffnung – eine Akzeptanz. Der Tod ist eine unausweichliche Tatsache, der wir uns schon seit der Jugend bewusst sind.

Welche Bedeutung hat der Glaube in dieser Situation?

Kreissl: Als Seelsorger in der Psychiatrie Wil hatte ich immer wieder mit Sterbenden zu tun. Für mich als Theologe war es eine wichtige Erkenntnis, dass der institutionell gelebte Glaube nicht unbedingt etwas darüber aussagt, ob jemand die Grenze zwischen Leben und Tod leicht überschreitet oder nicht. Ich habe nichtgläubige Menschen erlebt, die eine Art innere Weisheit, eine innere Kraft hatten. Sie haben dies gemeinsam mit glaubenden Menschen, die diese Kraft einfach anders bezeichnen.

Büche: Menschen mit dieser inneren Kraft haben sich oft eine Lebendigkeit aufrechterhalten können. Lebendig keit ist Wandlungsfähigkeit und Flexibilität und hilft, Hoffnung zu haben. Diese Kraft trotz widrigen Umständen nennen wir auch «Resilienz».

Die Begleitung von Sterbenden ist eine herausfordernde Situation. Kommen Sie da selber an Grenzen und was machen Sie, damit Sie nicht jedes Mal einen Tod mitsterben?

Büche: In der Palliative Care spricht man auch von «Mitleid». Aber Mitleid ist nicht hilfreich, da das Mit-Leiden uns Kraft nimmt. Wir müssen meiner Meinung nach gar nicht mehr wollen, als zu begleiten. Wir sind dabei, dürfen miterleben. Das ist ein enormer Reichtum an Erleben, das viele andere Menschen nicht haben. Wieso mich das nicht erschreckt, das weiss ich, ehrlich gesagt, nicht.

Kreissl: Dem stimme ich zu. Das Dabei-sein-Dürfen habe ich wirklich als Dürfen erlebt. Das Sterben gehört zum Leben und es ist ein unglaubliches Geschenk, dass ich durch meinen Beruf Menschen in diesen Situationen nahe sein darf. Da geht es schlichtweg nicht mehr um Äusserliches, sondern nur noch um etwas Urtümliches.

Fringer: Als Pflegefachpersonen sind wir manchmal, wenn wir es zulassen, längere Zeit bei den Sterbenden mit dabei. So habe ich es in Pflegeheimen und auch im Sterbehospiz kennengelernt. In dieser Situation können wir nichts mehr geben, nur da sein. Es gibt Begleitungen, die sehr erschöpfend sind. Dann hilft es mir, den ursprünglichen Tagesplan nicht strikt durchzuziehen, sondern dem Nachbereiten der Situation Raum und Zeit zu geben. Ich gehe dann meist spazieren und meide den Kontakt zu anderen Personen. Für Pflegende ist diese Situation nicht zu unterschätzen. Wir lernen das nicht, sondern müssen da hineinwachsen.

Büche: Ihr habt das Dabeisein angesprochen. Für mich als Arzt ist das nicht so einfach umzusetzen. Von mir wird erwartet, dass ich ziel- und lösungsorientiert arbeite. Wenn ich zu einem Sterbenden gehe, muss ich aber nicht mehr überlegen, was ich noch tun könnte. Ich habe keine Lösungen mehr. Vielleicht nicht einmal mehr Worte. Wenn der Sterbende wünscht, dass ich dabei bin, begegne ich ihm anders als zuvor, als er Patient war.

Stichwort «Palliative Care»: Wie hat sich die Bedeutung der palliativen Versorgung in der Langzeitpflege in den vergangenen Jahren und Jahrzehnten verändert?

Fringer: Aus dem zarten Pflänzlein ist ein junger Baum geworden, der nun Wurzeln geschlagen hat. Jetzt muss er weiterwachsen – in vielfältige Richtungen und Disziplinen hinein. In der Gesellschaft ist noch ein unvollständiges Bild vorhanden. Palliative Care meint nicht die Begleitung am Lebensende, sondern beginnt schon viel früher. Sobald ein Mensch zum Beispiel die Diagnose Multiple Sklerose bekommt, beginnt die Palliative Care, welche die Erhaltung der Lebensqualität trotz Krankheitsentwicklung zum Ziel hat.

Kreissl: Mir gefällt, dass bei der Palliative Care verschiedene Disziplinen zusammenzuarbeiten versuchen. Dieser ganzheitliche Ansatz ist eine Stärke, mit der wir früher im Leben eines Menschen ansetzen sollten. Nicht nur in der Palliative Care, sondern generell, indem wir den Menschen als Leib-Geist-Seele-Wesen sehen, dem als Ganzes Sorge gut tut. Das wäre ein grosser Erfolg.

Büche: In der Palliative Care sind heute gute Ansätze da und sie ist breiter abgestützt. Viele Pflegeheime, Professionelle in der Spitex, Hausärzte, Seelsorger und Weitere nehmen sich des Themas an und erstellen Konzepte. Dem Bewusstsein von Palliative Care in der Gesellschaft sind dennoch Grenzen gesetzt. Solange wir gesund sind, setzen wir uns zwar mit unserer Endlichkeit auseinander, aber noch nicht mit der letzten Lebensphase.

Mit Ihrem Wissen und Ihren Erfahrungen – wie denken Sie heute an Ihre eigene Lebensgrenze?

Kreissl: Grundsätzlich vertraue ich darauf, dass es gut gehen wird. Ich trage die Hoffnung in mir, auf unendlich viele Fragen Antworten zu bekommen. Ich bitte Gott um die Fähigkeit, den Weg in Würde gehen und Schmerzen tragen zu können.

Büche: Die Wirklichkeit sieht wahrscheinlich anders aus, als ich sie mit meiner heutigen – menschlichen – Wahrnehmung erfassen kann. Diese andere Wirklichkeit zu erfahren und zu erleben, fasziniert mich. Das Unaussprechliche erschüttert mich aber auch. Dieses Wechselbad der Gefühle hilft mir, mich im Leben zu halten. Ich bin gespannt auf das, was kommt, wenn es Zeit für mich ist.

Fringer: Eine Grenze kann überschritten werden, insofern gefällt mir die Frage. Bis zur Lebensgrenze kann ich mein Leben gestalten lernen. Gestaltung ist Kunst und Lebensaufgabe zugleich. Ich hoffe sehr, dass mir das letztlich gelingen darf – in Erwartung neuer Perspektiven.

TOTENGEBETE UND FACEBOOK

Durch die Digitalisierung kann die Grenze des Lebens zunehmend verschwimmen – zum Beispiel für Personen, die auf Social-Media-Kanälen aktiv sind. Denn mit dem Tod eines Benutzers wird nicht automatisch sein Twitter- oder Facebook-Konto geschlossen. «Alleine in der Schweiz hinterlassen jährlich etwa 40'000 verstorbene User Facebook-Konten», schätzt Reto Eugster, Leiter des Weiterbildungszentrums FHS St.Gallen und Social-Media-Experte. Für Freunde und Follower seien die Verstorbenen also immer noch «erreichbar». Dadurch verändere sich auch die Trauerarbeit. Freunde haben die Möglichkeit, öffentlich auf Twitter, Facebook oder anderen Sozialen Medien zu trauern und ihre Gefühle auszudrücken. Wie sich die Formen des Trauerns im Zuge der veränderten Mediennutzung seiner Meinung nach wandeln, verrät Reto Eugster in einem ausführlichen Gespräch auf www.bildungshorizont.ch