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Brennpunkt

Praxisprojekt – Pendeln zwischen Welten

Andrea Sterchi

Ob zwischen Theorie und Praxis, Sprache und Kultur, Integration und Selbstvertrauen – Grenzen müssen die Beteiligten an den Praxisprojekten des Fachbereichs Wirtschaft immer wieder aufs Neue aufbrechen und überwinden. Schweizweit ist dieses Lehr- und Lernmodell einzigartig – jetzt soll es gar nach China exportiert werden.

In der Theorie gehen die Modelle immer auf, nicht so in der Praxis. Hier heisst es, sie flexibel und pragmatisch anzuwenden und so auf die gesteckten Ziele auszurichten. Genau das macht den Kern der Praxisprojekte aus. Wer an der Fachhochschule St.Gallen Betriebsökonomie oder Soziale Arbeit studiert, entscheidet sich für gelebte Theorie. Im Fachbereich Wirtschaft werden die Studierenden ab dem dritten Semester zu Grenzgängerinnen und Grenzgängern. Sie pendeln zwischen zwei Welten. Was sie im Hörsaal lernen, müssen sie auf reale Fragestellungen anwenden – in realen Unternehmen.

Sie überwinden die Grenze zwischen Theorie und Praxis und stossen wiederum auf neue. Zum einen müssen sie sich im Team finden und organisiePraxisprojekt – Pendeln zwischen Welten ren, zum andern sich soweit als möglich ins Unternehmen integrieren und gleichzeitig in die Rolle einer Beraterin, eines Beraters schlüpfen. Denn alle Beteiligten – Studierende, Projektverantwortliche im Unternehmen und Coaches der FHS – arbeiten auf gleicher Augenhöhe, um die im Auftrag so präzise wie möglich definierten Ziele zu erreichen. «Von den Studierenden verlangt das viel Selbstvertrauen. Schliesslich müssen sie vor der Geschäftsleitung auftreten», sagt Peter Müller, Leiter der Wissenstransferstelle WTT-FHS, die die Projekte akquiriert und koordiniert.

Transparenz vs. Vertraulichkeit

Die Unternehmen ihrerseits müssen den Studierenden zum Teil tiefe Einblicke in ihre Geschäfte gewähren, was immer die Frage der Vertraulichkeit aufwirft. Letztlich müssen bewusst Grenzen gezogen werden. Wie viel Zeit soll aufgewendet werden? Was ist machbar in dieser Zeit? Und: Wie weit soll das Projekt gehen, sowie: Was bedeutet es, wenn ein Untersuchungsfeld weggelassen wird? «Wir bewegen uns immer in einem Grenzbereich. Die Grenzen müssen wir ständig neu managen», sagt Peter Müller.

«EIN GEWINN FÜR DIE FIRMA»

Für die Flawiler Büchler Reinli + Spitzli AG optimierten die Studierenden das Rechnungs- und Berichtswesen. Inhaber und Geschäftsführer Andreas Scherrer: «Das Praxisprojekt war für mich das erste dieser Art und einzigartig. Für die Firma ein absoluter Gewinn. Seit fast einem Jahr arbeiten wir mit dem optimierten System. Von den acht definierten Themenfeldern haben wir alle implementiert. Jetzt werden noch «kosmetische Anpassungen» hinzugefügt, die uns das praktische Handling erleichtern. Wir waren vorher schon gut aufgestellt, nur fehlten uns wichtige Verknüpfungen. Jetzt sind wir in der Industrie 4.0 angekommen. Grenzen gab es keine, weil ich keine gesetzt habe. Wer transparent sein will, muss offen sein. Das Team hatte auf alle Daten Zugriff, das macht den Erfolg mit aus und der engagierte Einsatz der Studierenden.»

Die Grenzen müssen wir ständig neu managen.

300 Einzel- und Teamprojekte

Seit Ende der 1990er-Jahre sind die Praxisprojekte fester Bestandteil des Betriebsökonomiestudiums und wichtiger Grundpfeiler im Bildungsmodell 80-20 (80% Theorie und 20% Praxis). Über die Jahre haben sie sich weiterentwickelt, heute gibt es neun unterschiedliche Programme. Der Fokus liegt auf der Unternehmensanalyse, der Marktforschung und der Managementkonzeption. Dieses Jahr sind es, Bachelor-Thesen eingerechnet, rund 300 Einzel- und Teamprojekte, wovon bis auf 30 hinter allen ein konkreter und bezahlter Auftrag aus der Wirtschaft steht. «Dass die Projekte etwas kosten, zeigt ihre Ernsthaftigkeit. Und die Studierenden sind gefordert. Sie müssen sich in der Praxis bewähren», sagt Peter Müller.

Die vielversprechendsten Projekte werden jedes Jahr für den WTT YOUNG LEADER AWARD nominiert und von einer Jury prämiert, bestehend aus Vertreterinnen und Vertretern der Wirtschaft und der FHS.

China hat erkannt, wie wichtig in der Ausbildung die Nähe zur Industrie ist.

Internationale Ausrichtung

Längst beschränken sich die Praxisprojekte nicht mehr nur auf die Region oder die Schweiz, sondern richten sich international aus. Die Mehrheit findet im deutschsprachigen Raum statt, 2002 kamen die USA dazu, 2008 China. Die internationale Ausrichtung bringt wieder neue Grenzen: sprachliche und kulturelle. In den USA spannt die FHS mit der Robert Morris University in Pittsburgh zusammen. In den Teams arbeiten Studierende beider Hochschulen, in der Schweiz und in den USA. «Einerseits ist der unterschiedliche Bildungsrucksack eine grosse Herausforderung, andererseits gibt es Unterschiede trotz der kulturellen Nähe», sagt Peter Müller. Während die Amerikaner im Auftreten und der Präsentation überzeugten, arbeiteten die Schweizer methodisch strukturierter. «Auch hier braucht es viel Selbstvertrauen. Nur gemeinsam sind wir wirklich stark», sagt Peter Müller. Die Zusammenarbeit funktioniert, das beweisen die Nominationen für den WTT YOUNG LEADER AWARD und die zufriedenen Auftraggeber (siehe Kasten).

Andere Werte und Mentalitäten

In China ist der kulturelle und sprachliche Unterschied viel grösser. Hier kooperiert die FHS mit der Shanghai University. «Ein Schweizer Unternehmen erteilt zwar den Auftrag, die Studierenden arbeiten aber mit chinesischen Projektmanagern zusammen. Das bedeutet, wir müssen den Spagat schaffen zwischen unseren Werten und der chinesischen Mentalität», sagt Peter Müller. Keine einfach zu überwindende Grenze. So müssen etwa die Hierarchie und die damit vorgegebenen Wege eingehalten, oder die unterschiedliche Diskussionskultur berücksichtigt werden, damit niemand das Gesicht verliert. Zusätzlich haben es die Studierenden in China mit einem sehr grossen Markt zu tun. Auch Informationsdaten wie etwa Statistiken fehlen, auf die sie sich abstützen könnten. «Die Studierenden bewegen sich in vielen Spannungsfeldern gleichzeitig. Immer wieder müssen sie einen Weg finden, die Grenzen zu überwinden», sagt Peter Müller. Trotz der zahlreichen Herausforderungen sei dies möglich, ist er überzeugt.

Bildungsexport nach China

Jetzt sind nochmals neue Grenzen zu überwinden: Das Lehr- und Lernmodell Praxisprojekte soll nach China exportiert werden. Zusammen mit der Berner Fachhochschule (BFH) hat die Fachhochschule Ostschweiz (FHO) einen Workshop unter dem Titel «Bringing Applied Sciences to Life» für chinesische Entscheidungsträger im Bildungswesen entworfen. Das Ziel ist es, diesen einen Einblick ins duale Bildungssystem der Schweiz sowie ins Transfermodell 80-20 zu gewähren. Die Teilnehmenden sollen befähigt werden, in ihren Institutionen diese Grundideen umzusetzen. «Das ist ein hochgestecktes Ziel», sagt Mathias Kleiner, verantwortlich für das Projekt seitens der FHO.

600 Fachhochschulen aufbauen

2015 unterzeichneten der Verein Swissuniversities – entstanden aus den Rektorenkonferenzen der Universitäten, Fachhochschulen und Pädagogischen Hochschulen –, und das chinesische Pendant, Chinese Alliance of Universities of Applied Sciences (AUAS), eine Übereinkunft zur Kooperation auf Hochschulebene. «China hat erkannt, wie wichtig in der Ausbildung die Nähe zur Industrie ist. Deshalb sollen im Hochschulbereich rund 600 Universitäten, Hochschulen und Institutionen neu gegründet oder bestehende nach dem Modell unserer Fachhochschulen angepasst werden», sagt Mathias Kleiner. Mit dem Workshop, einem bezahlten Weiterbildungsprodukt, leisteten die FHO und BFH einen Beitrag dazu.

Die Praxisprojekte spielen dabei eine wichtige Rolle, als Form der Lehre sowie als Ansatz, wie Theorie und Praxis verbunden werden können. «Unser Modell funktioniert. Wir können es aber natürlich nicht 1:1 übertragen. China muss einen chinesischen Weg finden», sagt Mathias Kleiner. Der Workshop liefert die Philosophie und die Idee, die Problemfelder und die Grundlagen müssen die Teilnehmenden selber definieren, damit sie die Umsetzung auf die eigenen Verhältnisse adaptieren können.

Wandel in der Gesellschaft nötig

Für den Erfolg müssen sich Grenzen aufweichen. Einerseits gesellschaftliche: In der Schweiz ist der Wert des dualen Bildungswegs bei den Eltern und den jungen Leuten stark verankert. «In China wollen die Eltern ihre Kinder an Eliteuniversitäten schicken, alle Jungen wollen Manager werden», sagt Mathias Kleiner. «Damit unser System funktioniert, muss es einen Wandel in der Gesellschaft und in der Mentalität geben.»

Andererseits muss sich die Bildungslandschaft ändern, obwohl China ein ähnliches Schulsystem mit Kindergarten, Primar- und Sekundarschule hat. Letztere nennt sich «Untere Mittelschule». Die zweijährige obere Mittelschule danach ist freiwillig. Ende des 12. Schuljahres legen die Schülerinnen und Schüler den «Hohen Test» ab. Er entscheidet, ob, was und wo sie studieren können. Eine Art Berufsschule kennt China zwar, nur ist sie weniger angesehen als bei uns. «Unser Fachhochschulsystem baut aber auf der Berufsausbildung auf», sagt Mathias Kleiner. Der Workshop sei ein erster Schritt auf einem langen Weg.