Getroffen im «Gleis 8»
«Global denken, lokal handeln»
Lea Müller/Andrea Sterchi
Vier Treiber des globalen Wandels fordern Gemeinden in der Schweiz – technisch, ökologisch, ökonomisch und gesellschaftlich. Wie sollen sie mit den komplexen und wechselwirkenden Herausforderungen umgehen? Das Ostschweizer Zentrum für Gemeinden der FHS St.Gallen unterstützt sie dabei, sich für die Zukunft zu rüsten.
Frau Kurmann, Herr Tittmann, Sie leiten zusammen das Ostschweizer Zentrum für Gemeinden. Kennen Sie alle Gemeinden in der Ostschweiz?
Sara Kurmann: (lacht) Nein, das ist nicht realistisch. Aber ich kann sagen, dass ich – als Luzernerin – nirgends in der Schweiz so viele Gemeinden kenne wie in der Ostschweiz.
Stefan Tittmann: Wichtig ist, dass wir die Ostschweiz und ihre politischen Kulturen kennen. Und die Unterschiede. Wir haben viel Wissen und Erfahrungen, wie Gemeinden funktionieren. Unsere Dienstleistung ist, dieses Wissen massgeschneidert weiterzugeben.
Inwiefern unterscheiden sich die politischen Gemeinden in der Ostschweiz?
Kurmann: In vielen St.Galler Gemeinden ist das Gemeindepräsidium in Bezug auf Arbeitspensen stark ausgebaut. Die Gemeindepräsidentin, der Gemeindepräsident ist oft stärker operativ tätig und übernimmt entsprechend Verantwortung für Tagesgeschäfte. In vielen anderen Kantonen sind die Pensen tiefer.
Tittmann: Es gibt auch Unterschiede zu anderen Landesteilen. In der Ostschweiz haben wir eine relativ hohe Gemeindeautonomie. Westschweizer Gemeinden etwa sind zentralistischer aufgestellt. Dadurch haben die Gemeinden ganz andere Spielräume.
Wieso braucht es das OZG?
Kurmann: Wir bündeln Wissen. In uns haben die Gemeinden einen Ansprechpartner, der je nach Fragestellung die entsprechenden Fachleute an einen Tisch bringt. Dabei können wir auf die Fachbereiche und Institute an der FHS zurückgreifen. Wir stellen so einerseits Kontakte her, begleiten aber andererseits auch die Gemeinden selber in ihrer Entwicklung.
Tittmann: Ein Beispiel: Eine kleine Gemeinde steht vor der Ressortreorganisation. Hier spielen neben Strukturen und Zahlen auch weiche Faktoren mit. Etwa, wie die Zusammenarbeit zwischen Gemeinderat, Verwaltung und Beölkerung aussehen soll. Je nachdem braucht ein Vorhaben andere Kompetenzen. Wir helfen bei der Klärung, wer welche Rolle übernehmen soll.
Was sind die grössten Herausforderungen für Gemeinden?
Tittmann: Die lokalen Auswirkungen der vier Treiber des Wandels. Diese sind zwar global, suchen aber auch nach lokalen Antworten. Zum einen stehen die Gemeinden wegen des technischen Wandels und der Digitalisierung mitten in einem Umbruch, wie wir ihn noch nie hatten. Zum andern müssen sie sich die Umwelt- und Ressourcenfrage stellen. Wie können sie sich von fossilen Brennstoffen lösen, wie sich dem Klimawandel anpassen? Stichwort ist hier zum Beispiel die «2000-Watt-Gesellschaft».
Kurmann: Gefordert sind die Gemeinden auch aus ökonomischer Sicht. Steuerreformen, Standortwettbewerb – nicht alle Gemeinden können die gleichen Strategien fahren. Letztlich bringt der demografische Wandel grosse Herausforderungen. Dabei beschäftigen uns Themen wie Kinder- und Familienfreundlichkeit, Wohnen und Pflege im Alter, Nachbarschaftshilfe, etc. Die Wechselwirkung der Herausforderungen erhöht die Komplexität und zeigt, dass es keine einfachen Antworten gibt.
Sind die Herausforderungen für ländliche Gemeinden anders als jene für Städte?
Tittmann: Die Herausforderungen sind gleich, die Antworten und Handlungsmöglichkeiten anders. Als Folge des knapper werdenden Bodens müssen nun viele Gemeinden gegen innen wachsen. Eine Weinbaugemeinde beispielsweise kann sich nicht als Technologiegemeinde positionieren. Sie muss sich anders entwickeln.
Kurmann: Viele kleine Gemeinden stellen sich die Frage, ob sie diese Herausforderungen alleine angehen oder zusammenarbeiten sollen. Es gibt bereits viele gelungene Kooperationsmodelle.
Zum Beispiel?
Kurmann: Kooperationen in der klassischen Verwaltung wie eine gemeinsame Jugendarbeit, eine gemeinsame Bauverwaltung oder ein gemeinsames Zivilstandsamt haben sich bewährt. Ein Thema sind auch die Finanzen. Denkbar ist etwa, dass neue Rechnungslegungsmodelle Finanzverwaltungen zusammenlegen könnten. Die strategische Verantwortung liegt trotzdem beim Gemeinderat.
Reichen Kooperationen aus? Müssen nicht gerade kleine Gemeinden zwangsläufig fusionieren?
Tittmann: Diese Diskussionen wird es immer geben. Zwischen Kräften, die eine Fusion vorantreiben, und jenen, die mehr auf Kooperationen setzen. In diesen Prozessen kann das OZG die Gemeinden begleiten, ihre eigenen tragfähigen Antworten zu finden und die nächsten Schritte zu planen.
Kurmann: Zentral sind auch die weichen Faktoren, zum Beispiel die Identifikation. Wir machen neben den positiven auch auf kritische Punkte bei einer gescheiterten Fusion aufmerksam. Sie kann Risse in einer Gemeinde hinterlassen – in Parteien und am Stammtisch. Die Rolle des OZG ist es, den Gemeinderat mit interdisziplinärem Fachwissen zur Entscheidungsfindung hin zu begleiten.
Tittmann: Es gibt gelungene Fusionen wie Rapperswil und Jona. Andere Fusionen sind nicht zustande gekommen, Rorschach-Rorschacherberg-Goldach oder Gossau-Andwil etwa. Ich glaube, auch kleine Gemeinden können grundsätzlich alleine bestehen. Man muss jeden Fall einzeln beurteilen, genau hinschauen, welche Fragen sich stellen, wie gross der Wille ist, eigene Antworten für Kooperationen zu finden. Gemeinsam sind die Gemeinden stark. Die Form ist zweitrangig.
Die Digitalisierung ist derzeit ein grosses Thema. Wo betrifft sie die Gemeinden?
Kurmann: Sie spielt in mehreren Bereichen eine Rolle. Von Online-Formularen für den Wohnortwechsel bis zur interaktiven Kommunikation mit den Einwohnerinnen und Einwohnern. Ebenso sind «smart metering», intelligente Messsysteme im Bereich Bau und Technik, ein Thema. Wie auch Nachbarschaftsplattformen, Pflegeapps oder die Verwaltung von Grundbuchdaten.
Wo stehen wir bei der Digitalisierung?
Tittmann: Mitten drin oder erst am Anfang? Schwierig zu sagen. Noch vor zehn Jahren hatten wir keine Smartphones. Es war unvollstellbar, was dann alles passiert ist. Die Digitalisierung birgt hohes Potenzial, Ressourcen einzusparen. Sie verändert die Arbeitswelt, macht Arbeitsplätze überflüssig und schafft neue.
Kurmann: Gemeinden müssen offen und flexibel sein. Was die Digitalisierung letztlich bringt, ist schwierig vorauszusagen. Eine erfolgreiche Strategie könnte sein, sich nichts zu verbauen. Braucht es eine Digitalisierung, deren aktuelle Technik schon absehbar oder überholt sein wird?
Tittmann: Das gilt auch für die Kommunikation. Nur über die altbekannten Kanäle zu kommunizieren, ist nicht zu empfehlen. Es braucht die digitale Kommunikation als Ergänzung.
Angesichts der wachsenden Herausforderungen: Was können Gemeinden konkret tun?
Kurmann: Es hilft, die Komplexität, die vielfältigen Herausforderungen und ihre Wechselwirkungen erst einmal anzunehmen. Dann gilt es, einen integralen Zugang zu finden.
Tittmann: Gemeinden müssen offen sein für den Dialog mit den Einwohnerinnen, den Vereinen, dem Gewerbe, den Unternehmen. Es ist wichtig, alle mit ins Boot zu holen. Eine Gemeinde lebt neben den Steuereinnahmen vor allem vom – meist ehrenamtlichen – Engagement in Vereinen, Behörden und Kommissionen. Es braucht eine Kultur des Miteinanders.
Kurmann: Menschen, egal ob jung oder alt, arbeiten gerne mit, wenn die Themen sie betreffen und interessieren. Dann sind sie bereit, sich zu engagieren. Gemeinden sollen ihnen dies ermöglichen, die Rahmenbedingungen schaffen, ihnen entsprechende Räume oder eine Anschubfinanzierung zur Verfügung stellen.
Brauchen Gemeindebehörden bald spezifische Aus- oder Weiterbildungen, um der zunehmenden Komplexität begegnen zu können?
Kurmann: Die Aufgaben auf einer Gemeindeverwaltung sind vielfältig. Dafür gibt es bereits unterschiedliche Ausbildungsmöglichkeiten. In der politischen Bildung lernen wir allerdings vor allem, wie die Eidgenossenschaft funktioniert, nicht aber, wie man eine Gemeinde führt. Wir an der FHS bieten dazu den Zertifikationslehrgang Gemeindeentwicklung an. Oder den neuen Zertifikationslehrgang Digital Public Communication and Services. Hier geht es um das Bewusstsein für die Digitalisierung, damit man weiss, worum es geht, was auf uns zukommt.
Wie stellt sich eine Gemeinde optimal für die Zukunft auf?
Tittmann: Das Konzept der Nachhaltigen Entwicklung bietet einen guten Zugang für eine integrale Positionierung. Ich nenne das «Enkeltauglichkeit». Die Herausforderungen werden potenziell zunehmen, die Handlungsmöglichkeiten abnehmen. Global waren noch nie so viele Menschen auf der Flucht. Es gab aber auch noch nie so viele Menschen auf der Erde. 2050 werden es laut Prognosen ca. zehn Milliarden sein. Wir sprechen zwar von einer Überalterung der Gesellschaft. Global gesehen waren wir aber noch nie so jung.
Kurmann: Die Gemeinden und ihre Einwohnerinnen und Einwohner sind Teil einer globalen Gesellschaft. Den übergeordneten Trends kann man sich nicht entziehen. Man muss sie kennen und einen für die Gemeinde zweckmässigen Umgang damit finden. Gemeinden sind gefordert, global zu denken und lokal zu handeln.