Brennpunkt
«Das Alter ist spannender als die Jugend»
Lea Müller
E in Jahrzehnt lang hat sie über die Jugend geforscht, nun setzt Sabina Misoch in der Schweizer Altersforschung Akzente – unter anderem als Leiterin des grössten nationalen Forschungsnetzwerks. Ein Gespräch über das Jung-Sein und das Alt-Werden.
Frau Misoch, wie jung oder alt fühlen Sie sich?
Sabina Misoch: Kommt darauf an, was Sie mit «jung» und «alt» meinen. Wenn ich das kalendarische Alter betrachte, bin ich in Relation zu meiner Forschungszielgruppe noch jung, wenn ich meine Kinder betrachte, dann entsprechend alt (lacht). Weitaus interessanter ist das subjektive Alter, also das gefühlte Alter. Und hier klaffen das kalendarische und das subjektive Alter immer mehr auseinander: Ich fühle mich – wie die meisten Menschen in meinem Alter – eher jünger. Das entspricht einer wachsenden Tendenz.
Worin liegt die Ursache für diese Entwicklung?
Misoch: Eine zentrale Rolle spielen Altersbilder, die in unserer Gesellschaft kommuniziert werden und die wir verinnerlichen. Diese Bilder geben vor, was «Alt-Sein» bedeutet und womit wir es assoziativ verbinden. Hier wird sich in den nächsten Jahren und Jahrzehnten aber ein Wandel vollziehen: Das «Alt-Sein» wird eine andere Bedeutung erhalten – geprägt von positiven Begriffen wie Mobilität, Dynamik und Erfahrungsreichtum.
Bis wann ist man heute «jung» und ab wann «alt»?
Misoch: Neben der vorher genannten subjektiven Wahrnehmung möchte ich hier die soziologische Definition anführen. Die eigenständige Lebensphase Alter beginnt mit dem Eintritt in die Nacherwerbsphase, in der Schweiz also mit durchschnittlich 64 beziehungsweise 65 Jahren. Diese Definition ist erst durch die Einführung von Alterssicherungssystemen entstanden. Die Lebensphase «Alter» umfasst die gesamte Lebensspanne von diesem Übergang in die Nacherwerbsphase bis zum Tod.
In Deutschland haben Sie zehn Jahre über die Jugend geforscht. Warum der Wechsel in die Altersforschung?
Misoch: Nachdem ich mich seit meiner Dissertation intensiv mit Identität und Identitätsarbeit von Jugendlichen mittels Neuer Medien auseinandergesetzt hatte, wollte ich mir ein neues Themenfeld aneignen. Die Lebensphase Alter ist – in meinen Augen – forschungspraktisch deutlich herausfordernder und vielseitiger als die Lebensphase Jugend.
Inwiefern?
Misoch: Die Lebensphase Alter umfasst zum einen deutlich mehr Lebensjahre, besonders spannend wird die Lebensphase Alter aber durch ihre Heterogenität: Von den dynamischen und fitten Seniorinnen und Senioren (drittes Lebensalter) bis hin zur Fragilität (viertes Lebensalter) und zum Lebensende öffnet sich ein breiter Fächer von interessanten und anspruchsvollen Themen. Damit stellen sich viele komplexe und herausfordernde Fragestellungen, zumal der demografische Wandel eine der zentralen Herausforderungen unserer Zeit darstellt und man hier mit guter angewandter Forschung einen Baustein für die Gesellschaft der Zukunft liefern kann.
Wie hat die Altersforschungs-Community in der Schweiz auf Sie als neue Kollegin reagiert?
Misoch: Die Kolleginnen und Kollegen der Gerontologie und Alterssoziologie haben durchwegs positiv reagiert, was mich sehr gefreut hat und natürlich weiterhin freut. Es ist im akademischen Bereich nicht einfach, nach gelungener Positionierung den Themenfokus so grundlegend zu ändern, wie ich das gemacht habe. Ich bin glücklich, dass das so gut gelungen ist.
Warum ist der Wechsel so gut geglückt?
Misoch: Zentraler Baustein dafür war die Aufgabe der Professur in Deutschland und der Antritt der Stelle als Professorin und Leiterin des Kompetenzzentrums Generationen an der FHS St.Gallen. Dieses war damals thematisch, strukturell und strategisch anders aufgestellt. Wir haben es neu auf das Forschungsthema «Alter» fokussiert. Im Februar 2015 haben wir das Interdisziplinäre Kompetenzzentrum Alter IKOA-FHS ins Leben gerufen. Hier geht mein Dank vor allem an das damalige Team Marlene Brettenhofer und Silvan Tarnutzer sowie an den FHS-Rektor Sebastian Wörwag, ohne deren Engagement und dessen Unterstützung das so nicht hätte gelingen können.
Wie unterscheidet sich die Forschung in der Schweiz von jener in Deutschland?
Misoch: Unterschiede sehe ich vor allem darin, dass sich die Altersforschung in Deutschland bereits stärker etabliert hat als unsere in der Schweiz. Aber das ist für uns die Chance, hier viel Neues zu beforschen!
Was sind denn derzeit die Forschungsthemen, die Sie und Ihr Team bearbeiten?
Misoch: Unsere Forschungsschwerpunkte liegen stark im Bereich der Technik und technischen Assistenz für Menschen im dritten und vierten Lebensalter. Hier setzen wir uns sowohl theoretisch als auch praktisch mit der Technikakzeptanz auseinander. Auf der praktischen Ebene schaffen wir Strukturen, die es erlauben, die Faktoren der Technikakzeptanz von Seniorinnen und Senioren besser zu verstehen sowie Innovationen gemeinsam mit den Endusern zu testen und zu evaluieren. Aber auch die Themen Lebenssinn, Demenz, Diversity, ältere Arbeitnehmende, Übergang in die Nachberufsphase, Identitätsarbeit, Wertewandel und Digitalisierung werden von uns im multidisziplinären Team bearbeitet.
Was den Einbezug von Seniorinnen und Senioren betrifft, gehen Sie neue Wege.
Misoch: Ja, wir forschen nicht nur über, sondern gemeinsam mit älteren Menschen. Seniorinnen und Senioren spielen im gesamten Forschungsprozess – von der Themenfindung bis zur Umsetzung und Auswertung eines Forschungsprojektes – eine aktive Rolle. Wir haben dazu sogenannte «partizipative Forschergruppen» ins Leben gerufen. Wir schulen die Seniorinnen und Senioren zuerst methodologisch, bevor sie empirisch forschen, gecoacht durch uns. Ein Forschungsprojekt zum Thema «Wohnen im Alter» ist bereits abgeschlossen, ein Projekt zur «Zufriedenheit im Alter» läuft. Unser Kompetenzzentrum ist schweizweit die einzige Institution, die die Partizipation der Betroffenen auf der höchsten Stufe der Beteiligung realisiert.
Sie leiten das nationale Altersforschungsprojekt AGE-NT. Was sind dessen Ziele?
Misoch: Das Innovationsnetzwerk AGE-NT ist das derzeit grösste nationale Projekt, das sich mit der Thematik «Alter(n) in der Gesellschaft» auseinandersetzt und es freut uns sehr, dass wir hier die Leitung innehaben. Mit knapp vier Millionen Franken vom Bund und der gleichen Summe in Eigenmitteln haben wir die Chance, innerhalb von vier Jahren – 2017 bis 2020 – wichtige Bausteine für die Meisterung des demografischen Wandels zu erarbeiten. Ziel ist es, nachhaltige Strukturen zu schaffen, die nach 2020 weiterbestehen und weiterbetrieben werden.
Welche Themen stehen dabei im Fokus?
Misoch: AGE-NT besteht aus vier thematischen Kernbereichen: erstens Active & Assisted Living (AAL), das heisst die Auseinandersetzung mit Technologien für ältere Menschen, zweitens Demenz und die Entwicklung eines Zentrums für Evidenzbasierte Demenzforschung, drittens Modelle für einen Arbeitsmarkt der Zukunft und Entwicklungen von sozial und ökonomisch sinnvollen Lösungen für Arbeitnehmer 45+, viertens Auseinandersetzung mit den Lebens- und Wohnbedingungen älterer Menschen sowie Entwicklung von Modellen für ein gesundes und selbstständiges Leben im Alter. Diese Cluster werden von Hochschulen und Universitäten aus drei Sprachregionen der Schweiz bearbeitet.
In diesem Herbst reisten Sie für einen Forschungsaufenthalt nach Japan. Dort haben Sie unter anderem die Insel der 100-Jährigen besucht. Würden Sie selber auch so alt werden wollen?
Misoch: Die Insel Okinawa ist zwar sehr schön, aber ich würde dort nicht 100 werden wollen (lacht), weil mir das zu abgelegen wäre. Es stellt sich hier ganz zentral die Frage nach der Lebensqualität. Wenn ich mit 100 Jahren dermassen gesund – physisch, psychisch und kognitiv – und vital bin, wie es viele der Hundertjährigen auf dieser Insel sind, dann werde ich sehr gerne so alt. Vor allem scheint mir hier die Frage des Lebenssinns, also der sinnstiftenden Tätigkeiten, zentral zu sein. Wenn der Mensch sein Leben lang bis ins hohe Alter für sich persönlich sinnhafte Tätigkeiten ausübt, dann hat er grosse Chancen, zumindest zufrieden alt zu werden.