Archivausgabe
Erkenntnis

Mobilität mit Kinästhetik fördern

Heidrun Gattinger

Aus dem Bett steigen oder ein paar Schritte gehen – sechs von zehn Menschen in Schweizer Pflegeheimen sind in ihrer Mobilität eingeschränkt. In der Pflege ist deshalb die Förderung der Bewegungsfähigkeit eine zentrale Aufgabe. Eine Studie zeigt: Damit Pflegepersonen mobilitätsfördernde Massnahmen umsetzen können, brauchen sie Wissen und Handlungskompetenz.

Die eigene Bewegungsfähigkeit ist zentral für die Stimmung, die Kommunikation und das Denken. Gerade Denken und Bewegen hängen eng zusammen. Es gibt Hinweise, dass Immobilität zu einem kognitiven Abbau führt. Bei der Versorgung pflegebedürftiger Menschen ist die Förderung der Bewegung und Mobilität zentral, um weitere Verluste dieser und nachfolgende Probleme wie Stürze oder Druckgeschwüre zu vermeiden. Eine deutsche Studie zeigt, dass fast jeder fünfte Pflegeheimbewohnende selbstständiger wäre und weniger pflegerische Unterstützung bräuchte, wenn er in seiner Bewegung gezielt gefördert würde. Unzureichende Bewegungskompetenz schadet auch den Pflegepersonen selbst, denn durch übermässiges Heben bei der Pflege können muskulo-skelettale Beschwerden entstehen. Eine repräsentative Schweizer Studie zeigt, dass viele Pflegende in der stationären Langzeitpflege an leichten oder starken Rücken- oder Kreuz- (71%) bzw. Gelenk- oder Gliederschmerzen (51%) leiden. Sie benötigen Kompetenz, um die Mobilität der Pflegebedürftigen zu fördern, ohne dass die eigene körperliche Gesundheit leidet.

Studie zu Kinästhetik-Kompetenz

Kinästhetik ist ein Ansatz, der das berücksichtigt. Unklar ist, wie Kompetenz darin definiert ist. Es fehlen Instrumente zur Erfassung und Daten zum Kompetenzlevel in der Pflege. Ziel der vorliegenden Studie war, ein Assessment zur Evaluation der pflegerischen Kompetenz in Kinästhetik zu entwickeln, um langfristig die funktionale Bewegung pflegebedürftiger Menschen und die Gesundheit der Pflegenden zu verbessern.

Die Studie umfasste drei Phasen. Phase I beinhaltete die Entwicklung des Konzeptes «Kompetenz in Kinästhetik» basierend auf einer Literaturübersicht und einem Workshop mit sieben Kinästhetik-Experten. In Phase II wurden zwei Assessmentinstrumente für die Kinästhetik-Kompetenz entwickelt und mit 23 Kinästhetik-Experten getestet. In Phase III wurde mithilfe dieser Instrumente eine Querschnittsbeobachtungsstudie mit 48 Pflegenden und 31 Pflegeheimbewohner sowie eine Befragung von 180 Pflegepersonen durchgeführt.

Theorie und Skills

Phase I zeigte, dass Kompetenz in Kinästhetik Wissen, Fertigkeiten, Haltung und Weiterentwicklung beinhaltet. Pflegende benötigen Wissen über die theoretischen Grundlagen von Kinästhetik, z.B. wie die Bewegungselemente Zeit, Raum und Anstrengung miteinander in Verbindung stehen, und Fertigkeiten (Skills) für die Interaktion, Bewegungsunterstützung, eigene Bewegung und eine Umgebungsgestaltung, die Eigenbewegung der pflegebedürftigen Person fördert. Zudem benötigen Pflegende eine Haltung, die den Lern- und Entwicklungsprozess eines jeden Menschen anerkennt sowie die Bereitschaft zur eigenen Weiterentwicklung

Fremd- und Selbsteinschätzung

In Phase II wurde basierend auf diesen Ergebnissen und gemeinsam mit Pflegewissenschaftlerinnen, KinästhetikExperten und einem Statistiker das Kinästhetik-Kompetenz-Beobachtungsinstrument (KCO) mit den Bereichen Interaktion, Bewegungsunterstützung, eigene Bewegung und Umgebungsgestaltung sowie das Kinästhetik-Kompetenz-Selbsteinschätzungsinstrument (KCSE) mit den Bereichen Haltung, Weiterentwicklung, Wissen und selbsteingeschätzter Fertigkeiten entwickelt. Anschliessend wurde die Kinästhetik-Kompetenz von Pflegenden in der Bewegungsunterstützung in drei Schweizer Pflegeheimen überprüft. Dabei zeigte sich, dass 43% ihre Kompetenz als sehr gut einschätzten. Bei der Einschätzung durch Experten erhielten 15% eine sehr gute Beurteilung.

Unterschiede in der Selbst- bzw. Fremdeinschätzung der Kompetenz wurden bereits in anderen Studien im Gesundheitsbereich beschrieben. Eine Erklärung ist das fehlende Bewusstsein oder «blinde Flecken» für die eigenen Schwächen oder Fehler. In dieser Studie zeigte sich, dass höErkenntnis – Bewegungsunterstützung here Kompetenzlevel positiv mit mehr Kinästhetik-Training, längerer Erfahrung in der Langzeitpflege und höherem Anstellungsgrad korrelierten.

Kompetenz auf allen Stufen nötig

Pflegerische Kompetenz in der Bewegungsunterstützung ist eine Grundkompetenz, der mehr Beachtung in der Aus- und Weiterbildung geschenkt werden sollte. Dabei sollte die interprofessionelle Zusammenarbeit eine höhere Aufmerksamkeit erfahren. Die Bewegungsunterstützung wird vor allem in der Langzeitpflege oft von weniger gut ausgebildeten Pflegenden durchgeführt. Die Kompetenzentwicklung muss daher auf allen Stufen vorangetrieben werden. Zudem sollte die Zusammenarbeit mit anderen Gesundheitsprofessionen wie Physio- und Ergotherapie verstärkt werden.

Zur Entwicklung der Kinästhetik-Kompetenz in der Bewegungsunterstützung ist eine fortwährende Auseinandersetzung mit der Thematik und eine Unterstützung durch Experten wie Kinästhetik-Trainerinnen nötig. Gerade Pflegepersonen mit wenig Erfahrung benötigen hierbei Unterstützung. Auch braucht es weitere Forschung zu den Faktoren, die die Kompetenzentwicklung in der Praxis fördern bzw. behindern. Ein neues Forschungsprojekt dazu ist gestartet.

KINÄSTHETIK

Kinästhetik, entstanden in den 1970er-Jahren, ist eine praxisbezogene Erfahrungswissenschaft und befasst sich mit der Bewegungswahrnehmung. Angewendet wird sie vor allem in der Gesundheits- und Krankenpflege. Sie stellt Instrumente und Methoden zur Verfügung, um Bewegungsressourcen zu beschreiben und passende Bewegungsangebote zu gestalten. Ein Kinästhetik-Kurs vermittelt, wie pflegebedürftige Menschen beispielsweise beim Essen, Aufsitzen, Aufstehen oder beim Bewegen im Bett so unterstützt werden können, dass sie ihre Bewegungsmöglichkeiten so weit wie möglich ausschöpfen sowie ihre Bewegungskompetenz erhalten und erweitern können. Kinästhetik zielt darauf ab, die Bewegungsunterstützung von Menschen ohne Heben und Tragen zu erleichtern; Bewegungsressourcen von pflegebedürftigen Menschen zu erkennen und zu fördern; sowie die körperliche Gesundheit von Pflegepersonen zu erhalten.