Archivausgabe
Zu Besuch bei Valentin Meichtry

Ein Mini-Google für die Soziale Arbeit

Malolo Kessler

Valentin Meichtry ist Rorschacher durch und durch, Sohn eines Bauunternehmers, Schulrat. Und ein etwas anderer Sozialarbeiter – «kein klassischer», wie der 27-Jährige selbst sagt. Auf Anfang 2018 gibt der FHS Alumni seine Stelle bei der KESB in Rorschach auf und macht sich mit einer Einzelfirma selbstständig.

Es passiert oft vor dem Einschlafen. Da kommt eine Idee, die festgehalten werden will. Deshalb hat Valentin Meichtry etwas immer auf seinem Nachttisch: Post-it-Zettelchen. Und so kommt jede Idee auf ein Zettelchen, jedes Zettelchen später an seine Ideen-Wand. Dort entsteht manchmal aus einer Idee die nächste, eine andere, oder es kommt eine ganz neue. Auf mindestens eine dieser Ideen, die einst auf einem Post-it an der Wand klebte, möchte sich der Sozialarbeiter ab 2018 besonders konzentrieren. So sehr, dass er seine aktuelle Stelle bei der Kindes- und Erwachsenenschutzbehörde (KESB) in Rorschach gekündigt und eine Einzelfirma gegründet hat, «Meichtry Projekte».

Das derzeit wichtigste ist die OnlinePlattform: www.plattform-sg.ch, eine digitale Suchplattform für das Sozialwesen im Kanton St.Gallen, die bereits online ist. Die Website bietet über 800 Beratungsstellen und Hilfsangebote, sortiert nach Regionen und Themen – also eine umfassende Übersicht über alle Angebote und Stellen im Bereich des Sozialwesens. Hinzu kommt ein Wissensverzeichnis, in dem Fachpersonen und Interessierte Informationen zu allerlei Themen finden – von Adipositas bis Zwangsstörungen. Ausserdem finden sich auf der Plattform ein Infoblog und eine Übersicht über Weiterbildungsmöglichkeiten. «Der Suchmechanismus ist klar das Herz der Plattform», sagt Meichtry. Er sitzt in einem Café im Rorschacher Zentrum, die Haare nach hinten frisiert, den Zehntagebart säuberlich rasiert.

Alle Sozialämter durchtelefoniert

Die Idee zur Plattform, erzählt er, habe er im August vor einem Jahr gehabt. «Bei meiner Arbeit für die KESB in Rorschach habe ich damals eine Lösung für einen komplexen Fall gesucht», sagt Meichtry. Er habe lange googeln müssen, bis er ein entsprechendes Angebot gefunden habe. «Da sagte ich mir: Es kann doch nicht sein, dass wir im Jahr 2016 keine einfache und sinnvoll strukturierte Übersicht der relevanten Angebote haben.» Und so beschloss Meichtry, eben selbst ein Mini-Google für seine Branche zu schaffen. Der Sozialarbeiter investierte Hunderte von Arbeitsstunden ins Sammeln und Sortieren von Angeboten, brachte sich selbst bei, eine Website zu erstellen und ging im Mai dieses Jahres nach acht Monaten Arbeit online. Um die Plattform bekannt zu machen, nahm er eine Woche Ferien und telefonierte alle Sozialämter im Kanton durch, «das sind etwa 80 – es war Knochenarbeit». Die Feedbacks seien durchs Band positiv gewesen. «Ich habe gemerkt, dass durchaus Bedarf an der Plattform da ist.» Valentin Meichtry sagt, er wolle die Innovation im Sozialbereich fördern. Seine Branche müsse stärker über den eigenen Tellerrand schauen. Und er spricht von Wettbewerb, der grundsätzlich für die Entwicklung keiner Branche falsch sei. «Jede Institution, die durch öffentliche Gelder finanziert wird, ist eher dem Risiko der ‹Trägheit› ausgesetzt. Auf dem freien Markt hingegen sind Institutionen zur Weiterentwicklung und Innovation praktisch verpflichtet.»

Der Rorschacher denkt stark wirtschaftlich, ist fasziniert von der Digitalisierung. «Ich finde es extrem spannend, zu sehen, was in anderen Bereichen läuft. Das ist zum Beispiel ein Grund für mich, bei den FHS Alumni dabei zu sein.» Er sei kein klassischer Sozialarbeiter, sagt der 27-Jährige. Dass er überhaupt ein Sozialarbeiter werden wollte, stellte sich erst vor ein paar Jahren heraus.

Vielleicht arbeite ich nächstes Jahr ein paar Monate von Berlin oder Boston aus.

Kein inneres Feuer für den Bau

Aufgewachsen ist Valentin Meichtry als einer von zwei Söhnen eines Bauunternehmers. Das Unternehmen, die Meichtry AG, hatte einst sein Grossvater aufgebaut, der vom Wallis an den Bodensee gezogen war, daher der Westschweizer Nachname. Sein Vater führte die Firma während seines Arbeitslebens in zweiter Generation. Und so interessierte sich Valentin Meichtry zunächst ebenfalls für die Baubranche, absolvierte eine Maurerlehre. Danach machte er die Berufsmatura mit gesundheitlich-sozialer Fachrichtung. «Dort haben wir uns mit Ethik, Philosophie und Gesellschaft auseinandergesetzt, das hat mich fasziniert. So habe ich mich später für das FHS-Studium in Sozialer Arbeit beworben, damals noch in Rorschach. » Die Meichtry AG zu übernehmen, sei zwar immer wieder ein Thema gewesen. Aber es sei nicht die passende Branche für ihn, sagt Meichtry. «Und ich habe bei meinem Vater gesehen, was es heisst, Chef zu sein, Verantwortung zu tragen.» Das habe er so nicht gewollt, vielleicht noch nicht. «Ich finde es nach wie vor sehr schade, dass ich nicht Feuer fing und begeistert sagen konnte: Ja, ich mache die dritte Generation. Aber das kommt, oder es kommt nicht.» So ist die Meichtry AG kürzlich an ein anderes Bauunternehmen verkauft worden.

Die Baubranche hat Valentin Meichtry auch während des FH-Studiums begleitet: Als Maurer arbeitete er oft nebenbei auf Baustellen und finanzierte sich so sein Studium selbst. Im Sommer 2014 – an seinem 24. Geburtstag – schloss er ab, arbeitete in der Gemeinwesenarbeit in Herisau, in der Jugendarbeit in Mörschwil. Nebenbei war er drei Jahre lang im Vorstand des FC Rorschach, sein letztes Projekt war die Mitarbeit in der Arbeitsgruppe zur Fusion der Clubs Rorschach und Goldach. Seit Januar dieses Jahres sitzt Valentin Meichtry im Schulrat. Er ist ein politischer Mensch. Parteilos, aber bei «Rorschach plus» dabei, einem Verein, der sich parteiübergreifend für Rorschach engagiert. «Unser Motto ist: Vorwärts und nicht links oder rechts. Gerade in der Kommunalpolitik ist das wichtiger als Parteigeplänkel», sagt Meichtry, Rorschacher durch und durch. Einer, der am liebsten Kornhausbräu trinkt. Und einer, der sein Städtchen noch nie für längere Zeit verlassen hat – bis jetzt. «Vielleicht arbeite ich nächstes Jahr ein paar Monate von Berlin oder Boston aus, dass kann ich ja dann als Selbstständiger.» Was er nächstes Jahr bestimmt macht, genau wie in den vergangenen Jahren: einen Städtetrip mit Freunden, viele davon ebenfalls FH-Abgänger, am Wochenende vor Weihnachten. «Das ist zur Tradition geworden, wir nennen es ‹Pre Christmas Trip›», sagt Meichtry, hält kurz inne. «Ja – es ist eine richtige Kulturreise.» Ein Grinsen. Eines der wenigen an diesem Abend, der Sozialarbeiter spricht oft ernst und engagiert, konzentriert und strukturiert. Er ist ein Mensch, der gerne vorausplant. Der sich vorbereitet, immer ein bisschen weiter denkt. Ein Mensch, der einen anderen Menschen googelt, bevor er ihn zum ersten Mal trifft.

«Eine aufreibende Zeit»

Ein ganzes Jahr lang war Caroline Derungs praktisch jeden Tag rund um die Uhr im Spital bei ihrem Kind. «Eine aufreibende Zeit, wir hätten unsere Tochter ein paar Mal fast verloren.» Ein Gefühl, das sich kaum in Worte fassen lasse. «Sein Kind zu verlieren, ist vermutlich das Schlimmste, was einem passieren kann.» Weltweit wurde kein passender Stammzellen-Spender für Jamie gefunden. Die letzte Chance waren die Stammzellen des Vaters, welche zu 50 Prozent kompatibel waren. «Glücklicherweise verlief die Transplantation am Kantonsspital in Basel problemlos. Jamie erholte und entwickelte sich sehr gut.» In der Zwischenzeit war Caroline Derungs wieder schwanger geworden. Ein paar Tage vor Weihnachten durften sie dann ihre Tochter mit nachhause nehmen, und zwei Wochen später kam ihr Sohn zur Welt. Gesund und munter. Heute ist Jamie 19 Jahre alt und absolviert eine Ausbildung zur Medizinischen Praxisassistentin. Ihr Bruder Alan ist zwei Jahre jünger und lernt Zeichner Architektur, «vielleicht auch, weil er als kleiner Bub unseren Hausbau, den ich geleitet habe, so intensiv miterlebt hat».

Nach dieser «struben Zeit» wollte die junge Mutter wieder zurück in die Berufswelt. Sie fand eine 40-Prozent-Stelle in der Gemeindeverwaltung Niederhelfenschwil und arbeitete fortan für das ­Vormundschafts- und das Sozialamt. Zudem leitete sie die AHV-Zweigstelle. Die Betreuung der beiden Kinder teilte sie sich mit ihrem Mann, ihren Eltern und den Schwiegereltern. Als die Kindes- und Erwachsenenschutzbehörde (Kesb) entstand, musste sie sich entscheiden, ob sie in diesem Bereich eine Weiterbildung machen möchte oder ob sie sich nach etwas anderem umschauen soll. Sie entschied sich für Letzteres und stiess auf eine offene Stelle in der Standortförderung im kantonalen Amt für Wirtschaft und Arbeit. «Genau mein Ding», dachte sie sich und bewarb sich. Sie bekam den Job und arbeitete, bevor sie im Januar 2017 zu den Olma Messen wechselte, während fünf Jahren für die Standortentwicklung und -promotion im Kanton St.Gallen. Zwischenzeitlich absolvierte sie berufsbegleitend an der HTW in Chur den Executive MBA in Tourismus und Hospitality ­Management.

Kostenpflichtige Einträge

Obschon er noch einige weitere Ideen hat, die er in seiner Selbstständigkeit angehen will, ist die Plattform erst einmal Valentin Meichtrys Hauptprojekt. Eines, von dem er auch leben können will: Das Publizieren der Weiterbildungsangebote und der Sozialagenda-Einträge ist kostenpflichtig, weiter bietet er Werbebanner an. «Zudem haben wir natürlich mehr Ideen, wie das Ganze ausgebaut werden kann, damit es wirtschaftlich tragbar ist», erzählt er, der fast ausschliesslich in der Wir-Form spricht, auch wenn er noch keine festen Mitarbeiter hat – ein Marketing-Skill, gelernt an einem Kurs für Startup-Gründer. «Ich kann aber noch nicht mehr verraten. Spannend ist für mich nun erst einmal der Weg.»

Ideen jetzt pushen

Der Zeitpunkt, sich jetzt selbstständig zu machen, sei genau der richtige. «Ich muss jetzt Zeit investieren, um meine Ideen zu pushen, sonst schaffen sie es nicht aufs nächste Level und ich bereue es in zehn Jahren.» Riskant sei der Schritt in die Selbstständigkeit nicht. Er stelle sie sich vor «wie eine Reise ohne Kompass auf hoher See», sagt Meichtry, kneift hinter den Brillengläsern die Augen etwas zusammen, schaut hinaus auf den Rorschacher Marktplatz. «Ich weiss, ich habe Segel und folge dem Wind. Aber ich weiss noch nicht, in welche Richtung es geht.» Oder nicht bildlich gesprochen: «Ich habe mir eine Ausgangslage erarbeitet, bei der ich nicht am Tag X bei Null starte. Ich kann auf ein gewisses Fundament aufbauen.» Einen Zeitplan hat Meichtry – natürlich – auch schon gemacht: Vorerst gibt er sich acht Monate Zeit, um möglichst vieles zum Fliegen zu bringen, was einst auf einem Post-it begonnen hat.

FHS ALUMNI

Die Ehemaligen-Organisation der FHS St.Gallen ist ein wachsendes Netzwerk von 3’000 aktiven Mitgliedern sowie Studierenden-­Mitgliedern. Ehemalige und aktuelle Studierende bleiben unterein­ander und mit der Hochschule verbunden. Kontakte pflegen und neue knüpfen, innerhalb des eigenen Fachbereichs sowie interdisziplinär: Socializing ist bei Alumni- Veranstaltungen sowie beim grös­sten und öffentlichen Anlass, dem Networking-Tag, möglich. Alumni sind zudem automatisch Mitglied der FH Schweiz, welche sich unter anderem stark bildungspolitisch engagiert.

www.fhsalumni.ch