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Brennpunkt

«Das Alter ist spannender als die Jugend»

Nathalie Schoch

Rund um die 40 dämmert es vielen: Die Vergangenheit ist gelebt. Die Gegenwart ist, wie sie ist. Und die Zukunft? Die bringt körperliche wie auch geistige Veränderungen. Kein Wunder, geraten viele in die Midlife-Crisis. Doch Experten wissen, wie der Weg aus dieser Krise gelingt.

Anfangs musste ich lachen, als die Anfrage zum Artikelthema «MidlifeCrisis» eintraf. Natürlich sagte ich sofort zu, denn mit 42 bin ich prädestiniert dafür. Kurze Zeit später sank meine Euphorie etwas: Was ist, wenn sich herausstellt, dass auch ich in einer Krise stecke? Oder mich die Erkenntnisse in eine solche stürzen? Nun, dann muss ich umso mehr herausfinden, wie ich da wieder herauskommen würde.

Erste Station: Der Networking-Tag der FHS Alumni unter dem Titel «Forever young». Da sitze ich, gespannt, vielleicht ein wenig angespannt, als Entwicklungspsychologin Prof. Dr. Pasqualina Perrig-Chiello ihr Referat beginnt. «In den mittleren Jahren ist die Lebenszufriedenheit ganz unten, weil die Verantwortung zerdrückt. Diese Zeit ist für Krisen am anfälligsten. Man nennt sie auch die Gnade des Nullpunkts.» Das fängt ja gut an, denke ich. Und wird noch besser: Man durchlebe persönliche, familiäre oder berufliche Veränderungen. Oft alles auf einmal. «Und dieser biografische Übergang ist eine grosse Herausforderung.»

Klimakterium und Erektionstief

Ich sehe das in meinem Umfeld. Die einen hatten mit 30 schon Familie und Erfolg im Job, andere bekamen erst mit 40 das erste Kind oder starten gerade beruflich richtig durch. Mit knapp 50 folgt der Druck, von Jüngeren im Arbeitsmarkt verdrängt zu werden. Daneben gibt es andere Umstände, die unzufrieden machen: Scheidung, Auszug der Kinder, Doppelbelastung Job/Familie oder unerfüllte Träume. Forscher reden von der «U-Kurve des Glücks», die besagt, dass sich Menschen mit 20 vergleichsweise wohlfühlen, dann sinke die Zufriedenheit kontinuierlich bis zum 50. Lebensjahr, danach gehe es wieder bergauf. Genauso sieht es PerrigChiello. Man frage sich plötzlich: Ist es das gewesen? Konnte ich alles verwirklichen, was ich wollte? Und dann spüre man auch noch körperlich, nicht mehr 20 zu sein.

Letzteres kann niemand aufhalten, wie ich von Elisabeth Haldemann-Jenni erfahre, Dozentin an der FHS St.Gallen im Fachbereich Gesundheit. «Frauen zwischen 40 und 50 kommen ins Klimakterium. Der Östrogenspiegel geht zurück, der Körper verändert sich, man kommt in die Wechseljahre mit all ihren Nebenwirkungen.» Auch die Männer müssen jetzt stark sein, wenn sie das lesen: «Bei ihnen geht der Testosteronspiegel zurück, das heisst, der Körper kann weniger Muskeln aufbauen, die Potenz wird schwächer, die Erektion verschlechtert sich und die Fettverteilung verschiebt sich in den Bauch», so Haldemann-Jenni. Was beide Geschlechter ertragen müssen, ist die Hautalterung. «Wir bekommen Falten, weil das Bindegewebe zurückgeht. Es verliert an Flüssigkeit sowie auch die Fähigkeit, diese aufzunehmen. Entsprechend fängt die Haut an zu erschlaffen.»

Zuversichtlich bleiben

Spätestens jetzt sollte ich nochmals innehalten: Schweissausbrüche, Hauterschlaffung und dann auch noch die Vergesslichkeit, wie Perrig-Chiello sagt. Plötzlich fallen einem Namen nicht mehr ein, und was wollte ich gerade aus der Schublade nehmen? So geht es mir doch auch: Termine werden längst eingetragen, der Einkauf ist auf dem Zettel notiert und wichtige Dinge, die ich jemandem mitbringen oder mitteilen will, muss ich aufschreiben. Stecke ich doch in einer Krise? Ich glaube, noch nicht. Auch die Entwicklungspsychologin beschwichtigt: Nicht jeder gerate zwangsläufig in eine Krise. Es komme darauf an, wie wir gelernt hätten, mit den Herausforderungen des Lebens umzugehen. «Wer sich mit unangenehmen Erfahrungen auseinandersetzt, Lösungen sucht, sich austauscht und zuversichtlich bleibt, ist zufriedener als jemand, der sich als Opfer des Schicksals sieht.» Dazu komme der positive Aspekt des Älter-Werdens: Die sprachliche Ausdrucksfähigkeit und die Fähigkeit, Zusammenhänge intuitiv zu erkennen, nähmen zu. Allerdings nur, wenn wir unser Gehirn trainierten. Experten raten, sich mit Themen zu beschäftigen, die uns interessieren oder emotional berühren.

Es ist noch nicht zu spät

Pasqualina Perrig-Chiello empfiehlt allen Krisengeplagten, dem Leben einen neuen Sinn zu geben und die Weichen für die zweite Lebenshälfte zu stellen. Allenfalls mit professioneller Hilfe. Es sei Zeit, zu reflektieren, was man erreicht habe. Und dafür solle man dankbar sein. Genauso sieht es Elisabeth Haldemann-Jenni: «Wer sich durch eine Midlife-Crisis von einem zufriedenen Leben abhalten lässt, verschenkt wertvolle Zeit. Statt zu klagen, mit der Vergangenheit oder der Gegenwart zu hadern und Angst vor der Zukunft zu haben, könnten wir das Beste aus dieser Situation machen und sie als Chance sehen.» Es komme darauf an, wohin man den Blick wende. Weg von dem, was man nicht mehr könne, hin zu dem, was anders oder besser gelinge. Sie weiss, wovon sie spricht. Die Pädagogin fing mit 33 Jahren nochmals von vorne an und absolvierte eine Lehre als Pflegefachfrau. Heute ist sie Dozentin. «Lassen sich grössere Träume im Moment nicht umsetzen, gilt es, sich kleinere Inseln zu schaffen», sagt sie. Bleibt eine letzte Frage: Schönheits-Chirurgie ja oder nein? «Es gibt für mich nur wenige Gründe für einen Eingriff. Zum Beispiel, wenn das Augenlid herunterhängt und das Sichtfeld einschränkt. Ansonsten finde ich: Wer immer an sich herumschnippelt, sollte eher zum Psychiater als zum Schönheitschirurgen», so Haldemann-Jenni. Wir müssten nur lernen, wieder dazu zu stehen, dass das Gesicht auch im Alter schön sein könne.

Mein Fazit: Ich habe definitiv keine Midlife-Crisis. Ich hatte weder mit 30 noch mit 40 eine Krise, trotz Vorwarnungen. Bis jetzt habe ich jedes Alter spannend gefunden, weil es mir neue Chancen und Herausforderungen bot. So freue ich mich auf all die Übergänge, die noch kommen. Einzig die Vergesslichkeit, dagegen werde ich trainieren müssen. Einen Satz von Perrig-Chiello vergesse ich aber nicht: «Der Körper altert, das Selbst nicht.»

DIE KRISE IN DEN MITTLEREN JAHREN

Der Begriff «Midlife-Crisis» tauchte erstmals 1965 bei einem Psychoanalytiker in London auf. Dieser hatte vorwiegend männliche Patienten – extrovertierte Künstler in den mittleren Lebensjahren –, die in eine Krise geraten waren. Daraus schloss er: Männer bekommen im mittleren Alter eine Krise, die «Midlife-Crisis». Manifestiert hatte sich diese These durch amerikanische Einflüsse und damit verbunden die Klischees älterer Männer, die sich in ihrem vermeintlichen Jugendwahn Sportwagen und viel jüngere Frauen «aneigneten». Heute ist der Begriff allgegenwärtig, auch bei Frauen, und es ist wissenschaftlich belegt, dass Menschen in jungen und älteren Jahren zufriedener sind als in der Mitte des Lebens.

Buchtipps:
Marquart ,Volker. Halb so wild. Was mit 40 wirklich zählt. Kindle Edition, 2010. Perrig-Chiello, Pasqualina. In der Lebensmitte. 5. Auflage, NZZ Verlag. Frankl, Viktor E. Ärztliche Seelsorge. Mit den «Zehn Thesen über die Person». 6. Auflage, 2015, dtv Verlag