Brennpunkt
Drei Generationen unter einem Dach
Nina Rudnicki
Immer mehr Personen entdecken das Mehrgenerationen-Wohnen wieder. Auch FHS-Dozentin Eva Lingg lebt in einem Mehrgenerationen-Haus. Wenn Jung und Alt wieder näher zusammenrücken, überwiegen für sie die Vorteile. Auch Wohnforscherin Margrit Hugentobler ist überzeugt, dass die Nachfrage nach dieser Wohnform steigen wird – vor allem ländliche Gemeinden seien gefordert.
Die Zahl der älteren Menschen nimmt zu. Gemäss Hochrechnungen wird im Jahr 2035 jede vierte Person in der Schweiz über 65 Jahre alt und jede dritte Person in dieser Altersgruppe über 85 Jahre alt sein. Das stellt die Gesellschaft vor Herausforderungen, etwa im Wohnungsbau.
Neue Konzepte wie Mehrgenerationen-Häuser sind gefragt. In einem solchen lebt Eva Lingg, Architektin und Dozentin an der Fachhochschule St.Gallen. Sie forscht und lehrt im Themenschwerpunkt «Wohnen und Nachbarschaften» des Instituts für Soziale Arbeit und unterrichtet Architekturstudierende im ersten Semester. In Generationen-Häusern zu leben sei zwar noch kein Trend, seit einigen Jahren würden allerdings zu nehmend entsprechende Projekte initiiert, sagt Eva Lingg. Ihr eigenes Mehrgenerationen-Haus im vorarlbergischen Lustenau wurde in diesem Jahr mit dem Vorarlberger Holzbaupreis ausgezeichnet. In ihrer Begründung schrieb die Jury: «Nichts spricht gegen ein Einfamilienhaus, alles gegen sein Freistehen. Nur das isoliert stehende Einfamilienhaus ist die Quelle von Zersiedlung und sozialer Vereinzelung.»
Ressourcen bündeln, Kosten sparen, Nachbarschaft beleben
Eva Linggs Mehrgenerationen-Haus ist als Reihenhaus für drei Generationen konzipiert. Im ersten Teil lebt die Architektin mit ihrem Mann und den zwei Kindern. Im mittleren Teil wohnt ihre Schwägerin mit deren Familie, den dritten Teil haben ihre Eltern bezogen. Insgesamt leben neun Personen unter einem Dach. Jede Partei hat ihre eigene Wohnung, hinzu kommen gemeinschaftlich genutzte Räume wie der Garten, die Garage und ein grosser «Schopf» in der Mitte. Bei Letzterem handelt es sich um einen Raum, der je nach veränderten Bedürfnissen einer angrenzend wohnenden Partei umgenutzt werden kann. Die Vorteile liegen laut Lingg auf der Hand: Ressourcen werden gebündelt, Kosten beim Bau und Unterhalt eingespart und eine lebendige Nachbarschaft geschaffen. Generationen-Häuser sind nicht nur eine Alternative zu Einfamilienhäusern, sondern auch eine Alternative zu Alterswohnungen. Sie können einerseits Eltern dabei helfen, Familie und Beruf besser zu vereinbaren und andererseits ermöglichen, dass ältere Menschen versorgt und in die Gesellschaft integriert sind.
Es ist wichtig, dass es Angebote gibt, die den Wohnungsmarkt etwas vielfältiger gestalten.
Bedürfnis nach Rückzug und Privatsphäre bleibt
In den vergangenen Jahrzehnten galt für den Wohnungsbau noch die Kleinfamilie als Idealtypus, was sich in gängigen Wohnungsgrundrissen nach wie vor ablesen lässt. Heute differenzieren sich Lebens- und damit auch Wohnformen aber laut Lingg immer mehr aus, und neue, innovative Wohnkonzepte entstehen. «Ein Konzept ist das Wohnen in Gemeinschaft, nicht selten auch von Jung und Alt», sagt sie. Wichtig dafür, dass solche Wohnkonzepte funktionieren, sei, dass das Bedürfnis nach Rückzug und Privatsphäre berücksichtigt würde. Dass das Bedürfnis nach solchen Angeboten zunimmt, erfährt Eva Lingg auch persönlich. Regelmässig bekommt sie Anfragen für Besichtigungen ihres Mehrgenerationen-Hauses.
Wenn der Markt am Bedarf vorbei produziert
Auch die Wohnforscherin Margrit Hugentobler, ehemalige Leiterin der interdisziplinären Forschungsstelle ETH Wohnforum an der ETH Zürich, ist überzeugt: Die Nachfrage nach Wohnkonzepten wie Mehrgenerationen-Häusern und innovativen Wohnformen wird zunehmen. In diesem Zusammenhang beurteilt sie vor allem eine Entwicklung kritisch: Der Neuwohnungsmarkt reagiert nur sehr träge und mit Verspätung auf die sich abzeichnenden Bedürfnisse. In den kommenden Jahren werden zunehmend mehr kleinere, gut erschlossene 2- bis 3-Zimmer-Wohnungen für jüngere und ältere Singles und Paarhaushalte gefragt sein. Aktuell werden aber noch immer viele 4- bis 5-Zimmer-Wohnungen gebaut. «Der Markt produziert komplett an der Entwicklung der Bevölkerung und letztlich des Bedarfs vorbei», sagt sie. Die Wohnproblematik, aber auch weitere Herausforderungen, greift Margrit Hugentobler in ihren Vorträgen zum Thema «Wohnen im Alter» auf, wie etwa im November an der FHS St.Gallen. Zu diesen Herausforderungen gehört das Bedürfnis, möglichst lange und autonom in der gewohnten Umgebung bleiben zu können. Dafür braucht es aber passende Wohnformen. «Bereits jetzt stehen im Verhältnis viele grosse, oft auch teure Wohnungen leer, während kleinere weggehen wie frische Weggli.»
Viele grosse, teure Wohnungen stehen leer, während kleinere weggehen wie frische Weggli.
Gemeinden im ländlichen Raum sind gefordert
Da der Anteil der hochaltrigen Bevölkerungsgruppen bis 2050 kontinuierlich zunehmen wird, sind vor allem Gemeinden in der Agglomeration und im ländlichen Raum gefordert. Einerseits gibt es dort laut Hugentobler zu wenig hindernisfreien, gut erschlossenen Wohnraum mit leichtem Zugang zur benötigten Infrastruktur. Dazu zählen etwa Einkaufsmöglichkeiten und Anschluss an den öffentlichen Verkehr. «Andererseits trägt die Immigration aus dem Ausland, aber auch der Zuzug jüngerer Menschen aus ländlichen Gegenden, zur Verjüngung und damit zur Entlastung der wachsenden Städte bei.»
Wie eine hochbetagte Person leben möchte, lässt sich laut Margrit Hugentobler nicht pauschal beantworten. In den letzten Jahrzehnten seien aufgrund von Unterschieden betreffend Einkommen, Bildung, der steigenden Erwerbstätigkeit von Frauen und zunehmender Individualisierung die Lebensweisen vielfältiger geworden. «Diese Vielfalt wird auch den Alltag und die Wünsche zukünftiger älterer Generationen prägen. Dazu gehört der Wunsch, so lange wie möglich selbstbestimmt zu wohnen», sagt sie. Dafür brauche es unter anderem innovative Wohn-, Unterstützungs- und Betreuungskonzepte. Zu lange hätten sich die Kommunen in der Altersthematik auf die Gesundheit, die Kosten sowie den Bedarf an Alters- und Pflegeheimplätzen konzentriert. Auf die Lebenssituationen und die Vorstellungen älterer Menschen sei man hingegen kaum eingegangen. Auch die Unterstützung des Mehrgenerationen-Wohnens werde noch zu wenig bedacht, obwohl das Interesse bei jüngeren und älteren Menschen gross sei. In der Ostschweiz seien in diesem Zusammenhang einige Projekte bemerkenswert (siehe Kasten).
Ein Mehrgenerationen-Haus zählt mindestens drei Haushalte
Genaue Zahlen zu Mehrgenerationen-Projekten in der Schweiz gibt es laut Hugentobler nicht. Kriterien sind, dass ein Mehrgenerationen-Haus aus mindestens drei Haushalten besteht, ein Bewohner oder eine Bewohnerin über 60 Jahre alt ist und die Bewohner etwas miteinander unternehmen oder teilen. «Da ist noch keine Bewegung zu erkennen, da diese Zahl nach wie vor weniger als drei Prozent der Haushalte umfasst», sagt Margrit Hugentobler. Für Eva Lingg und ihre Familie ist diese Form das richtige Wohnmodell. «So leben muss aber nicht jeder», sagt sie. «Wichtig ist nur, dass es solche Angebote gibt, die den Wohnungsmarkt etwas vielfältiger gestalten sowie demografische und gesellschaftliche Entwicklungen aufnehmen.»