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Brennpunkt

Vorurteile sind heute meistens falsch

Essay Prof. Dr. Christian Reutlinger

Kinder sind laut, Jugendliche auf der Suche, Erwachsene vernünftig, Alte nicht mehr leistungsfähig und oft krank. Solche und ähnliche Vorurteile, die sich auf ganze Lebensabschnitte beziehen, sind unter gesellschaftlichen Bedingungen entstanden, die eng mit der industriellen Produktion westlicher Prägung verbunden waren. Hintergrund war ein um Mitte des 19. Jahrhunderts sich durchsetzender Normallebenslauf, der eng gekoppelt war mit der Erwerbsarbeit in den Fabriken. Dieser aktiven Berufsphase im Erwachsenenalter vorgelagert war eine arbeitsfreie Lernphase, in der junge Menschen ihren Platz in der Arbeitswelt und damit in der Gesellschaft finden konnten. Mit der Pensionierung wurde die inaktive Rentenphase eingeläutet. Nach getaner Leistung war ein Kürzertreten gesellschaftlich legitimiert.

Gesellschaftlich betrachtet, waren die verschiedenen Lebensalter abgesicherte Phasen mit klaren Grenzen und genau vorgegebenen Eigenschaften. Gleichzeitig wurde jeder Lebensabschnitt durch Institutionen, beispielsweise die Schule, die Arbeitslosen- oder Rentenversicherung, flankiert respektive abgesichert. Lebensalter waren scheinbar homogen, galten für jeden Mann und jede Frau, wobei sich die Ausgestaltung jeweils genderspezifisch eher auf die Produktion oder auf die Reproduktion bezog. Der Anfang und das Ende konnten durch biografisch verortete Lebensereignisse genau bestimmt werden. Unter diesen begrenzten Verhältnissen machten Vorurteile für einen Grossteil der Bevölkerung Sinn. Sie gaben dem Einzelnen Orientierung und Zugehörigkeit.

Selbstverständlich stimmten die Vorurteile nicht immer – trafen aber meistens in irgendeiner Art und Weise zu. Begegnungen zwischen den Generationen fanden aus den sicheren Positionen des anderen generationalen Raumes heraus statt: Alte schauten auf Junge, Junge auf Alte, Kinder auf Erwachsene, Erwachsene auf Kinder. Gleichzeitig schauten tendenziell alle Lebensalter auf Andersartige, das heisst auf Asoziale, Kranke, Arbeitslose oder Ausländer. Auch hier wird der Aspekt der Normalbiografie noch einmal deutlich, indem sich Vorurteile auch innerhalb von Generationen bildeten. Soziale Herkunft, Körpermerkmale oder einfach die Tatsache, nicht (mehr) mit dem als normal betrachteten Erwerbsleben mitzuhalten, führten zu vielen Vorurteilen und in der Konsequenz zur Ausgrenzung und Stigmatisierung bestimmter Personen und Gruppen. Insbesondere generationenbezogene Vorurteile konnten jedoch in der Begegnung mit den Menschen zu Urteilen umgewandelt, abgeschwächt oder verstärkt werden. So gesehen dienten Vorurteile in vielen Fällen der Herstellung und Aufrechterhaltung von Ordnung. Man kann sie auch als Motor beschreiben, der Normalität erzeugte.

Nichts ist mehr so, wie wir es gelernt haben

Im Gegensatz dazu stehen die heutigen Entgrenzungs- und neuen Begrenzungsprozesse. Sie lassen uns die bekannten Lebensalter und deren Position im Leben grundlegend hinterfragen. Diese Prozesse führen nämlich dazu, dass sich Grenzen und voneinander getrennte Lebensbereiche, wie sie sich unter den beschriebenen industriekapitalistischen Arbeitsbedingungen herausgebildet haben, auflösen, vermischen und in ein neues Verhältnis setzen. Es entstehen neue, teilweise noch nicht so feste, dafür aber radikalere soziale Begrenzungen. Die damit verbundene Entwicklung spüren wir in unserem Alltag: Alles, was uns über eine längere Zeit Halt gegeben hat, gerät scheinbar ins Wanken. Nichts ist mehr so, wie wir es gelernt haben. Deshalb scheint früher umso mehr alles in Ordnung gewesen zu sein. Die bisherigen Vorstellungen von Lebensalter als gemeinsam geteilte gesellschaftlich abgesicherte Lebensphasen werden brüchig und müssen überprüft werden. Ausserdem scheinen sich Lebensstile und Lebensgefühle immer mehr von den Lebensaltern zu lösen. So folgt beispielsweise das Konsumverhalten kaum noch lebensaltersspezifischen Gesetzen. Die Biografien der Menschen vermischen sich mit unterschiedlichen Lebensaltersbezügen, wie etwa das Anhalten der Jugendlichkeit oder die Uneindeutigkeit des Alterns.

Diese Entwicklungen führen zwar zu mehr Freiheiten, jedoch auch zum Verlust von Orientierung und Sicherheit, zur sozialen Gleichmachung und Relativierung der Lebensalter und damit verbunden zu neuen Unübersichtlichkeiten. Der Griff zurück auf gemeinsam geteilte Lebensformen wird immer weniger möglich, da sich die traditionellen Lebensalter als nicht mehr verlässlich erweisen. Lebensphasen bedeuten unter entgrenzten Bedingungen nicht mehr nur Phasen, in die man hineinwächst oder die man durchläuft. Vielmehr bedeuten sie neue Strukturen und Begrenzungen, mit denen man sich auseinandersetzen muss, wenn man auf seine Weise – also biografisch – jung oder erwachsen sein will oder mit dem Altern umgehen muss. Heute liegt die Aufgabe der Menschen darin, JungSein, Erwachsen-Sein und Alt-Sein in der Spannung zu den gesellschaftlichen Lebensaltern und den in ihnen enthaltenen Erwartungen selber zu bewältigen und zu gestalten.

Vorurteile können zu Urteilen werden

Was bedeuten nun generationenbezogene Vorurteile unter diesen entgrenzten Bedingungen? Zunächst ist festzuhalten, dass Vorurteile weiterhin sozialen Beziehungen und Begegnungen zwischen Menschen vorgängig sind. Es besteht jedoch – wie aufgezeigt – die Gefahr, dass man Zuschreibungen macht, die aus einer anderen Zeit stammen. Diese Vorurteile vermögen jedoch nicht mehr länger eine sichere Position in der Begegnung mit anderen zu vermitteln. Sichere gesellschaftliche Positionen, wie berufliche Rollen oder Hierarchien, zählen immer weniger. Zu differenziert sind die einzelnen Biografien und der jeweilige Erfahrungshorizont, weshalb jede Begegnung immer wieder von Neuem konstituiert werden muss. Sonst drohen Vorurteile durch eine unreflektierte Wiedergabe schnell zu falschen Urteilen zu werden. Die Folge davon können unreflektierter Radikalismus, Sexismus und Diskriminierung sein. Damit schwinden die Chancen auf einen gemeinsam geteilten Raum der Begegnung, in welchem Urteile durch den direkten Kontakt und die Beziehung gebildet werden. Vorurteile bieten heute keine Orientierung mehr und Vorurteile sind, so die Folgerung, heute meistens falsch.

Die heutigen gesellschaftlichen Strukturen sind feinmaschiger und komplexer, ja auch diffuser geworden. Neue, verstärkt auch virtuelle und teilweise nur schwer durchschaubare Begegnungskonstellationen werden gebildet. Da Unterscheidungsmerkmale und Zugehörigkeiten kontextabhängig sind, müssen sie vom Einzelnen in der Begegnung mit anderen Menschen immer wieder hergestellt und ausgehandelt werden. Dies bedeutet neben mehr Freiheiten und Entwicklungsmöglichkeiten auch einen erhöhten individuellen Leistungsaufwand – und neue Unsicherheiten.

Prof. Dr. Christian Reutlinger

Prof. Dr. Christian Reutlinger ist Leiter des Instituts für Soziale Arbeit IFSA-FHS.