Archivausgabe
Erkenntnis

Zur Zukunft der Freundschaft

Steve Stiehler

Freundschaft ist en vogue. ­Es vergeht in der deutschsprachigen Presselandschaft nahe­zu keine Woche, in der nicht in Feuilletons, Wochenendzeitungen oder Wochenzeitungen eine Lobeshymne auf die Freundschaft angestimmt wird. Eine divergierende Annäherung.

Freundschaft gilt als Wahlverwandtschaft und gesündeste Beziehung, in der der Freund oder die Freundin das Zweite Ich bildet. Als soziale Beziehung ist Freundschaft auch ein «Seismograf für den gesellschaftlichen Wandel» (Alleweldt 2013) und entsprechend steht die Ausgestaltung von Freundschaftsbeziehungen in einem engen Zusammenhang mit gesellschaftlichen Anforderungsstrukturen. Die Freundschaft steht heute zunehmend im Spannungsverhältnis von Idealisierung und Auflösung:

Zwischen Idealisierung ...

Die Sehnsucht nach einer emotional bedeutsamen Beziehung ist dem Menschsein eigen. Entsprechend erscheint Freundschaft als eine der persönlichen Beziehungsressourcen für die komplexen Anforderungen des modernen Lebens. Ein gutes Leben ohne das besondere Gut der Freundschaftsbeziehung ist nahezu unvorstellbar. Eine erfolgreiche Biografie braucht die Kontingenz von Freunden und Freundinnen. Der symbolische Zusammenhang von Sexualität und Liebe bricht zunehmend auf, die Ehe/Familie/Partnerschaft als Institution mit einem festen Rollen-Repertoire relativiert sich – dadurch eröffnen sich für die Freundschaft neue Optionen. Sei es als ein (Zu)-Fluchtsort der Vertrauensbeziehung oder als notwendiger Kitt einer brüchigen beziehungsweise «inkompletten sozialen Struktur», wie Tenbruck (1964) es nennt.

Mit dieser umfassenden Verschiebung der legitimatorischen Ordnung von Ehe und Partnerschaft zu mehr und mehr implizit kündbaren und damit befristeten Bindungen tritt ein Prozess der «Verfreundschaftlichung» (Schobin 2013) ein. Freunde und Freundinnen übernehmen unter anderem «Kompensationsfunktionen zur solidarischen Bewältigung» (Nötzold-Linden 1994) der Herausforderungen heutiger Lebensgestaltung, indem sie unvoreingenommen soziale Anerkennung und Selbstwert vermitteln. Mit der Freundschaft scheint gleichsam (verdeckt), ein Ideal des heutigen gesellschaftlichen Zusammenlebens zum Tragen zu kommen. Dieses kann den Auswirkungen von Entgrenzung, Subjektivierung, Rationalisierung, Digitalisierung und so weiter auf archaische Art und Weise Paroli bieten. Zudem erhöht die Individualisierung den Stellenwert möglichst frei wählbarer Beziehungen – wie es die Freundschaftsbeziehung im Grunde ist.

Das hohe Gut der Vielgestaltigkeitheutiger Lebenspraktiken, gekoppelt an die Aufforderung, trotz hoher  Schnelllebigkeit stets mithalten zu müssen, führt bei nicht wenigen Menschen zur Suche nach Sicherheit und Orientierung gebenden Beziehungen. Nach Beziehungen, in denen man sosein kann, wie man ist und keine Rolle (vor)spielen muss. Freundschaft bietet genau diese authentische Verhaltenssicherheit. Freundschaftsbeziehungen beinhalten ein selbstmotiviertes wie unausgesprochenes Versprechen des Gemeinsamen, das auf wundersame Weise selbst gegen die Rationalitäten der neoliberalen ökonomischen Kräfte mit Nutzen und Gewinn resistent ist. Vielmehr setzt die freiheitliche Freundschaftswahl hier einen Kontrapunkt, in dem sich die Freundschaftsbeziehung immer auch über subjektive Emotionen konstituiert.

... und Auflösung

Freundschaft dient heute in erster Linie der Vergewisserung des Selbst, um dem Zwang zur biografischen Selbstverwirklichung entsprechen zu können. Das Selbst ist zum Handlungszentrum geworden, in dem jede Einzelperson aus sich selbst heraus ihren Lebensweg im Duktus der selbstaktivierenden «Bastelbiografie» gestalten muss. Somit stellt sich die aristotelische Frage nach der Vollkommenheit der Freundschaft jenseits einer Nutzenerwägung so nicht mehr.

Auch stehen in der Pflege dieser Beziehungsform heute kaum mehr klassische Freundschaftstugenden wie Wechselseitigkeit im Vordergrund. Freunde und Freundinnen werden damit zu einer unumgänglichen Erfordernis für eine nutzbringende Selbstvermarktung. Denn im aktuellen «Netzwerkkapitalismus» mit seiner unermüdlichen Forderung, Networking zu betreiben, gelten reale wie Social-Media-Freundschaften – gerade im Jugend- und Erwachsenenalter – als ein Muss beziehungsweise Ausdruck gelingender Lebensgestaltung. Gelingt dies nicht, wird diesen Personen ohne Rücksicht auf sozialstrukturelle Spielräume eine unzureichende Eigenaktivität und persönliches Versagen zugeschrieben. Und dem Wunsch, dass Freundschaft soziale Aufgehobenheit wie Einbindung, Sicherheit, Bestätigung sichern soll, stehen Ängste vor sozialer Unbeliebtheit, vor dem Alleinsein oder der Monotonie des Lebens gegenüber.

Die Freundschaft verliert also ihre charakteristische Freiwilligkeit. Freunde und Freundinnen zu haben, wird zur Pflichtaufgabe, was sich auch in Diskursen zum Verständnis von Freundschaft zeigt. Dies lässt sich sehr schön daran erkennen, dass weitgehend frei gewählte Zweckbündnisse mit einem gewissen Vertrauenspotenzial über lapidare Bezeichnungen wie «Geschäftsfreund » oder «Politikfreund» real auch als Freundschaftsbeziehungen wahrgenommen werden. Freundschaftswerte wie personelle Unersetzbarkeit oder Ganzheitlichkeit werden im Sinne der in Mode gekommenen alternativen Fakten ausgeblendet. Glaubt man dem medialen Bild, gibt es echte Freundschaftsbeziehungen mit Intimität und emotionalem Austausch im Grunde nur noch zwischen Freundinnen, die füreinander Sorge tragen. Mit diesem um sich greifenden Motiv der Fürsorge werden Freundschaften zunehmend instrumentalisiert. Die eigentlich nicht-instrumentalisierten Eigenwerte dieser Beziehungsform werden obsolet. Die Freundschaftsbeziehungen werden somit (un)freiwillig zur wohlfahrtsstaatlichen Verheissung der Pflegeherausforderungen. Sind es doch im Kontext der Singularisierung zukünftig auch Freunde und Freundinnen, mit welchen im Alter zusammengewohnt wird und die letztlich auch fürsorgliche Funktionen übernehmen.

«Das Wichtigste im Leben»

Aufgrund dieser vielgestaltigen wie widersprüchlichen Beziehungsrealitäten ist heute eine soziologische Begriffsdefinition von «Freundschaft» unmöglich. Vielmehr ist der Freundschaftsbegriff von vorherrschenden Freundschaftsbildern beeinflusst und auf die jeweilige Lebensrealität abgestimmt. Freundschaft bewegt sich im Spannungsverhältnis des diskursiven Freundschaftsverständnisses und gelebter Freundschaftspraxis. So muss jeder und jede für sich einen Umgang mit dem subjektiv angenommenen Bedeutungsgehalt und den Auflösungserscheinungen von Freundschaft finden. Oder wie es der Politikwissenschaftler Helmut König ausdrückt: «Freundschaft ist das Wichtigste im Leben, und zugleich ist sie unmöglich, sie ist unverzichtbar, und wir müssen doch an ihr scheitern.»

Bibliografie:
Alleweldt, Erika: Die differenzierten Welten der Frauenfreundschaften. Eine Berliner Fallstudie. Velbrück GmbH Bücher und Medien, 2013. ISBN 978-3-942393-47-8
Tenbruck, Friedrich H.: Freundschaft: ein Beitrag zur Soziologie der persönlichen Beziehungen. Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie. S. 431 - 456, ISSN 0023-2653
Schobin, Janosch: Freundschaft und Fürsorge. Bericht über eine Sozialform im Wandel, 2013, ISBN 978-3-86854-266-0
Nötzoldt-Linden, Ursula: Freundschaft. Zur Thematisierung einer vernachlässigten soziologischen Kategorie VS Verlag für Sozialwissenschaften, 1994, ISBN 3531125516

RINGVORLESUNG FREUNDSCHAFT

Der Fachbereich Soziale Arbeit lädt alle Interessierten zur öffentlichen Ringvorlesung ein. Ziel ist es, aktuelle Freundschaftsdiskurse im Spannungsfeld von Idealisierung und Auflösung auszuleuchten und einen Blick in die Zukunft dieser Beziehungsform zu werfen.

Nächste Vorlesungen:
07.12.17 Mein Freund, der Roboter?; Prof. Dr. Manfred Hild, Berlin
14.12.17 Freundschaft zwischen Mediatisierung und Fürsorge; Dr. Janosch Schobin, Kassel
21.12.17 Frauen- und Männerfreundschaften – Mythen und Realitäten; Dr. Erika Alleweldt, Berlin, und Prof. Dr. Steve Stiehler, St.Gallen

Die Vorlesungen finden jeweils um 18 Uhr im Fachhochschulzentrum statt. Der Eintritt ist frei, eine ­Anmeldung nicht nötig.
www.fhsg.ch/freundschaft