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Brennpunkt

Messenger – stoppen sie die Mailflut?

Basil Höneisen

Eine Woche Ferien, 400 ungelesene E-Mails. Was früher noch undenkbar schien, ist heute bei vielen Alltag. Dabei betreffen die meisten Mails interne Angelegenheiten. Dieser Problematik begegnet die IT mit Messengern. Reto Eugster, ehemaliger Leiter des Weiterbildungszentrums, sieht in der Chat-Kommunikation Potenzial für ganze Branchen – neue Geschäftsideen wollen geweckt werden.

Vom Brief zum E-Mail: Seit der Digitalisierung klassischer Kommunikationswege ist der Zeitaufwand für eine Nachricht enorm gesunken. Nur: Schnelleres Versenden bedeutet auch, mehr Nachrichten in derselben Zeit abschicken zu können. Und das nutzen die Herren und Frauen Büroangestellten kräftig aus. Der Kampf gegen die unsägliche Mailflut ist bei vielen Unternehmen in vollem Gange. Die Wirtschaft schreit schon länger nach einer effizienten und stressfreien Lösung. Dabei gibt die IT-Branche die Richtung vor: Mit diversen Chat-Tools wie zum Beispiel «Slack» von Microsoft ist es möglich, alle beteiligten Personen eines Projekts einer Gruppe zuzuordnen. Die Kommunikation zwischen diesen Leuten findet nur noch an einem Ort statt – im Messenger, dem neuen Kommunikationszentrum. Das Prinzip beruht auf dem von «Whatsapp». Allerdings integrieren die professionellen Messenger andere Social-Media- und Office-Anwendungen viel stärker. Ist das praxistauglich? Reto Eugster, ehemaliger Leiter des Weiterbildungszentrums WBZ-FHS, ist davon überzeugt: «Zahlreiche Firmen organisieren ihre interne Kommunikation vollständig über Team-Messenger. Und auch privat nutzen über 90% der 14- bis 19-Jährigen in Deutschland einen Messenger. In der Schweiz ist mit vergleichbaren Zahlen zu rechnen.» Eugster spricht von einer «Messengerisierung» der Kommunikation.

Produktevergleich findet direkt vor Ort im Chat statt

Wo liegen die Unterschiede zum klassischen E-Mail-Verkehr? «Während E-Mails aus einer Kette einzelner Kommunikationsakte bestehen, passt zur Chat-Kommunikation die Metapher des Kommunikationsflusses», sagt Eugster. Die Akteure seien ständig «live» miteinander verbunden, die Chat-Kommunikation sei Teil lebensweltlicher Praxis. «Das bedeutet zum Beispiel, dass der Produktevergleich direkt beim Einkauf mit Freunden via Messenger-Gruppe stattfindet.»

Die Messenger verdrängen teils soziale Plattformen

Gemäss Eugster ist die Chat-Sprache eine Kurzsprache, die stark kontextabhängig ist. «Formalismen einer E-Mail wie Anrede oder Grussformel sind hier gerade nicht gefragt. Die Messenger-Kommunikation orientiert sich am Sprechakt und nicht an der Briefvorlage.» Diese Veränderung im Kommunikationsverhalten wirke sich auf das Onlineverhalten aus: Die User würden sich immer weniger via Facebook exponieren wollen, sondern vielmehr die Gruppenfunktion von Messengern nutzen. «Messengergruppen sind ein Massenphänomen geworden.» Diese Änderung im Kommunikationsverhalten führt dazu, dass Anbieter viel in den Messenger-Markt investieren. Denn: «Gelingt es Firmen wie beispielsweise Amazon Zugang zu diesem Alltagsrauschen zu finden, erschliessen sich ihnen neue Horizonte», ist Eugster überzeugt. Solche Geschäftsmodelle würden nur darauf warten, realisiert zu werden.

Beruflich oder privat – die Kommunikationsform bleibt dieselbe

Die Gruppenfunktion von Messenger wird nicht nur von Schülerinnen und Schülern genutzt, sondern von jeglichen Communitys, deren Mitglieder auf irgendeine Weise innerhalb der Gruppe in einer Beziehung zueinander stehen: die Familie, der Tennisclub, das Polterabend-OK, die Gruppenarbeit der Studierenden, die Geburtstagsparty, das Projektteam «Alpha». Reto Eugster erklärt, welchen gemeinsamen Nenner die Kommunikation solch diverser Gruppen hat. «Die Typik dieser Form bleibt konstant. Im Zentrum steht die Kombination multimedialer Möglichkeiten. Ton-, Video-, Foto- und Textelemente greifen ineinander, vermitteln eine Gesamtbotschaft. Auch das Prinzip des ständigen Kommunikationsstroms, der kein Anfang und kein Ende hat, ist hier typisch.» Diese beiden Aspekte würden sich durch alle Gruppen ziehen – unabhängig davon, ob ein Chat dem Privatleben oder dem Berufsalltag dienen soll.

«Der Alltag zeigt andere Probleme.»

Dr. med. Nils Ruckstuhl ist Leiter der Inneren Medizin am Spital Flawil. Im Interview erzählt er, wie die Gesundheitsbranche aktuell kommuniziert und wie praxistauglich eine «Messengerisierung» in der Schweizer Gesundheitsbranche wäre.

Herr Ruckstuhl, welche Kanäle nutzen Patienten heute, um in Kontakt mit dem Arzt zu treten?

Nils Ruckstuhl: Bei uns wird sehr klassisch kommuniziert: vorwiegend im Gespräch auf der Visite. Allerdings haben wir im Schnitt auch eher ältere Patienten. Die Erwartung, dass der Arzt persönlich vor Ort ist und sich um einen kümmert, ist bei uns relativ hoch.

Wie sieht es intern aus: Sind Sie Mitglied eines Hausarzt-Chats?

Ruckstuhl: Nein. Aus meiner Sicht besteht in meinem beruflichen Umfeld auch kein Bedürfnis dafür. Zumindest noch nicht, vielleicht ändert sich das mal.

Können Sie sich denn einen Kommunikationswandel für die gesamte Branche vorstellen?

Ruckstuhl: Ich kann mir durchaus vorstellen, dass sich die Messenger-Kommunikation im Gesundheitswesen durchsetzt. Aber mein Alltag zeigt ganz andere Probleme. Zum Beispiel schafft es mein Computer nicht einmal, einen Bericht anständig zu transkribieren. Das macht immer noch eine Sekretärin. Mir scheinen die digitalen Möglichkeiten viel weiter zu sein als die Praxis.

Wo liegen die Probleme?

Ruckstuhl: Zum einen bei den immensen Kosten bei Erneuerungen von IT-Infrastruktur, zum anderen aber auch beim konkreten Nutzen. Meiner Erfahrung nach wünschen sich Patienten den direkten Menschenkontakt. Trotzdem gibt es bestimmt gute Ansätze von neuer Kommunikation, beispielsweise das Modell für Schlaganfälle zwischen Grabs und dem Spital St.Gallen.

Wie funktioniert das?

Ruckstuhl: Bei komplexen Situationen mit Schlaganfällen wird per Videoübertragung von Grabs ins Spital St.Gallen angerufen. Anhand dessen, was die Ärzte im Spital sehen und vom anderen Arzt hören, beurteilen sie das weitere Vorgehen. Das ist eine Art «Fernwartung», indem auf mehr Wissen zugegriffen wird.

In England läuft ein Projekt, bei dem 3.5 Millionen Menschen an einem Hausarztsystem beteiligt sind, das Chat-Beratung anbietet. Wäre das etwas für die Schweiz?

Ruckstuhl: Bei Hausarztpraxen kann ich mir das noch eher vorstellen als im Spital. Einen Teil an Fragen kann man sicher via Chat beantworten, aber eine komplette Untersuchung kann nicht durchgeführt werden. Für genaue Diagnosen sind physische Untersuchungen unabdingbar.

Dafür gibt es doch immer mehr Apps. Was halten Sie vom Trend der «Selbstvermessung»?

Ruckstuhl: Nur schon beim selbstständigen Blutdruckmessen passieren den Patienten etliche Fehler – und da reden wir von offiziellen Messgeräten. Wie sollen wir dann den Daten unterschiedlicher Apps vertrauen können?

Interview: Basil Höneisen

Zahlreiche Firmen organisieren ihre interne Kommunikation über Team-Messenger.

Ein Assistent, der Wissen kanalisiert: der Bot

Messenger als Kommunikationsform bieten allerdings noch einen dritten, bedeutenden Unterschied zur E-Mail-Kommunikation: Künstliche Intelligenz, die mit Messengern verflechtet ist. «Mein Messenger kann erkennen, wo ich gerade bin, und sich an der Kommunikation mit passenden Restauranttipps direkt beteiligen. Das ist erst der Anfang der Entwicklung», sagt Eugster. Bots merken sich Gewohnheiten des Benutzers – Orte, Suchanfragen, meistgenutzte Kontakte. Auf diesen Daten aufbauend könnten uns diese Bots immer besser assistieren. Bekannt ist der heutige Einsatz von Bots vorwiegend im Consulting. «Chat-Bots spielen bereits in verschiedenen Beratungsbereichen eine grosse Rolle, beispielsweise im IT-Support. Die Sozialversicherungsanstalt St.Gallen setzt ebenfalls Bots ein, um User-Fragen zu beantworten.»

Ersetzt der Chat-Bot eines Tages meinen Hausarzt?

In Zukunft wäre Messenger-Kommunikation auch im Gesundheitswesen denkbar, sagt Eugster. «In diese Richtung wird bereits geforscht. In England gibt es ein Projekt, bei dem immerhin 3.5 Millionen Bürgerinnen und Bürger an einem Hausarztsystem beteiligt sind, das Chatberatung anbietet.» Der Trend der «Selbstvermessung» schreite voran. «Mit dem Schrittzähler haben wir begonnen, heute lassen sich Ein-Kanal-EKGs via Smartphone erstellen.» Allerdings sei dieser Trend nicht ganz unproblematisch, erklärt Nils Ruckstuhl im Interview (siehe Kasten). Er ist Leiter der Inneren Medizin am Spital Flawil. Nichtsdestotrotz könne er sich gewisse Veränderungen in der Gesundheitskommunikation vorstellen – doch das sei noch ein langer, beschwerlicher Weg.