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Brennpunkt

Willkommen im «lebendigen Labor»

Lea Müller

Technische Assistenzsysteme können ältere Menschen dabei unterstützen, länger zuhause zu leben – aber nur, wenn sie den tatsächlichen Bedürfnissen entsprechen und akzeptiert werden. In den ersten privathäuslichen Living Labs der Schweiz testen Seniorinnen und Senioren solche Produkte auf Herz und Nieren. Ein Besuch in einem «lebendigen Labor».

Im gemütlichen Wohnzimmer von Christine Kaiser und ihrem Ehemann erinnert auf den ersten Blick nichts an ein «lebendiges» Labor. Kein humanoider Roboter, der einem die Türe öffnet, kein Kommunikationsroboter, der nach dem Wohlbefinden des Gastes fragt. Die 80-jährige Seniorin und ihr 78-jähriger Mann schmunzeln ob dieser Erwartungshaltung bei der Besichtigung eines der ersten Living Labs 65+ in der Schweiz. Auch wenn die beiden durchaus nicht abgeneigt wären, solch futuristische Assistenzsysteme zu testen, konzentrieren sie sich im Moment noch auf weniger auffällige, aber nützliche Produkte wie Rauch- und Feuchtigkeitsmelder, Bewegungsmelder mit verbundener LED-Lichtleiste, ein Blutdruckmessgerät, einen GPS-Tracker und einen Türöffnungssensor, der das regelmässige Öffnen des Kühlschranks überwacht. Alle Sensoren sind verbunden mit einer Hauszentrale, die mit den Hausbewohnern kommuniziert. Sie erinnert Christine Kaiser zum Beispiel daran, dass sie heute den Blutdruck noch nicht gemessen hat.

Keine künstliche Laborsituation

Christine Kaiser und ihr Mann sind Teil des kürzlich abgeschlossenen Forschungsprojekts «AALivingLab@home» des Interdisziplinären Kompetenzzentrums Alter IKOA-FHS. Unter Leitung der Soziologin und Altersforscherin Sabina Misoch wurden hierfür Privathaushalte in der Ostschweiz gesucht, die Interesse haben, in ihrer privaten Häuslichkeit an Testungen von Innovationen (für Menschen 65+) aktiv mitzuwirken. Living Labs sind das Gegenmodell zu klassischen Laboren, denn das Testen und Evaluieren von technischen Assistenzsystemen findet in realen Lebensumgebungen statt – in den eigenen vier Wänden der Nutzerinnen und Nutzer. Das Konzept der Langzeittests in der Privathäuslichkeit sei in dieser Form einzigartig in der Schweiz, sagt Sabina Misoch. Die Herangehensweise unterscheide sich von der künstlichen Laborsituation und verspreche bessere Erkenntnisse: «Das Spannende am Konzept der Living Labs ist der partizipative Ansatz», führt die Altersforscherin aus. «Die Bewertungen und Rückmeldungen der Seniorinnen und Senioren leisten einen unmittelbaren Beitrag zur Weiterentwicklung von Produkten.»

Christine Kaiser, Journalistin und Teilnehmerin am Living-Lab-Projekt der FHS

Christine Kaiser kommt ursprünglich aus Berlin. Vor etwa 40 Jahren zog die Journalistin in die Schweiz. Sie arbeitete für verschiedene Medien, unter anderem bei Ringier. Später machte sie sich selbstständig und schrieb als freie Journalistin vor allem für Fachmedien im Bereich Gesundheit und Medizin. Seit der Pensionierung betreibt sie das Schreiben als Hobby, unter anderem für die Plattform seniorweb.ch. (mul)

NETZWERK WIRD ERWEITERT

Aktuell baut das Interdisziplinäre Kompetenzzentrum Alter IKOA-FHS Living Labs in der Schweiz auf. Im Rahmen des nationalen Innovationsnetzwerks AGE-NT «Alter(n) in der Gesellschaft» wird das bestehende Netz aus Privathaushalten erweitert. Im Fokus stehen die Nutzerfreundlichkeit für Seniorinnen und Senioren sowie die Implementierung und nachhaltige Verbreitung der Living- Lab-Methode. Der Ansatz gewinnt auch europaweit an Bedeutung. So wird im Rahmen der Internationalen Bodenseehochschule (IBH) am Projekt «IBH Living Lab Active & Assisted Living» gearbeitet, um ein «lebendiges Labor» in der Bodenseeregion zu etablieren. Auch in Japan stösst die Living-LabMethode auf Interesse: Sabina Misoch, Leiterin des IKOA-FHS, ist im Austausch mit japanischen Forschenden und Industriepartnern.

Das Spannende am Konzept der Living Labs ist der partizipative Ansatz.

Möglichst lange zuhause leben

Diese Möglichkeit, die Entwicklung von technischen Assistenzsystemen zu beeinflussen, motivierte auch Christine Kaiser dazu, am Living Lab 65+ der FHS St.Gallen mitzuwirken. «Fast jeder möchte im Alter so lange wie möglich zuhause leben können», sagt sie. Die aktive Seniorin pflegt verschiedene Hobbys, spielt unter anderem Klarinette in einem klassischen Orchester. Ihr Mann spielt Posaune. «Üben könnten wir in einer Seniorenresidenz oder in einem Altersheim kaum.» Umso wichtiger sei es für sie, so lange wie möglich in ihrem Haus wohnen zu können. Gerne leiste sie einen Beitrag zur Weiterentwicklung von technischen Assistenzsystemen, auch wenn sie persönlich noch nicht auf digitale Helfer angewiesen sei, versichert die Seniorin.

Auf die Living Labs ist Christine Kaiser am internationalen Forum zum Thema «Active&Assisted Living (AAL)» in St.Gallen aufmerksam geworden. Die ehemalige Journalistin nahm als Berichterstatterin für das Seniorweb teil. «Ich finde es faszinierend, welche intelligenten Lösungen es bereits gibt, damit Menschen mit Hilfe der Technik autonom bleiben können.» Sie hörte einen Vortrag von Sabina Misoch und begeisterte sich für das Konzept der Living Labs. Ihren Ehemann musste sie nicht lange zur Teilnahme überreden: Er war früher selbst im IT-Bereich tätig. Die getesteten Produkte fand er fast etwas zu «harmlos». Ein Roboter wäre mehr nach seinem Geschmack gewesen. «Aber bei uns müsste er Treppen steigen können», sagt er und lacht. Das Haus sei schon für einfache Sensoren eine Herausforderung, berichtet er. Die Funkverbindung zur Hauszentrale über verschiedene Stockwerke hinweg klappe nicht immer.

Auch wenn wir die besten Maschinen entwickeln – ohne den Kontakt zu anderen Menschen können wir nicht leben.

Den Bedürfnissen auf der Spur

«Aus Fehlfunktionen, die sich bei Langzeittests zeigen, gewinnen wir wichtige Erkenntnisse, die wir den Entwicklern zurückmelden können», sagt Sabina Misoch. Aus dem erhobenen Datenmaterial wurden verschiedene Verbesserungsvorschläge abgeleitet. Bei den Living Labs gehe es nicht um Marktforschung, betont Sabina Misoch. «Unser Anliegen ist es, dass Assistenzsysteme auf die tatsächlichen Bedürfnisse von älteren Menschen angepasst sind und dass deren Lebensqualität damit gesteigert werden kann.» Diese Anforderungen verstünden sich nicht von selbst, denn in der Entwicklungsphase von Produkten spielten gerontologische Kenntnisse keine zentrale Rolle. Was brauchen Menschen im Alter?

Welche Assistenzsysteme oder Dienstleistungen sind attraktiv? Welche Produkte werden überhaupt akzeptiert? Die Technikakzeptanz ist bei Seniorinnen und Senioren in der Deutschschweiz unterschiedlich stark ausgeprägt, wie eine Studie des IKOA-FHS belegt: Für die meisten älteren Menschen gehören digitale Dienstleistungen und Systeme bereits zum Alltag – trotzdem fühlen sich viele unter Druck und befürchten Benachteiligungen, falls sie diese nicht nutzen. Christine Kaiser bezeichnet sich selbst zwar nicht als besonders technikaffin, möchte sich aber auf keinen Fall «von der Technik überholen» lassen. Also nutzt sie Smartphones, Tablets, eine Cloud und so weiter. Damit sei sie aber einigen Freundinnen in ihrem Alter voraus, erzählt die 80-­Jährige.

Was würde die Technikakzeptanz fördern? Im ersten Living-Lab-­Projekt konnten verschiedene Erkenntnisse gewonnen werden. Akzeptanzfördernd sind gemäss Sabina Misoch und ihrem Team klare Funktionen, einfache Bedienung und Wartung, ein erkennbarer Mehrwert des Technikprodukts, günstige Anschaffungs- und Unterhaltskosten sowie ein guter Zugang zu Servicedienstleistungen. Akzeptanzhemmend sind eine hohe Bedienungskomplexität, Fehlfunktionen oder Stigmatisierungen, die mit dem Gerät verbunden sind.

Das erste Living-Lab-Projekt ist zwar abgeschlossen, aber Christine Kaiser und weitere 15 Privathaushalte der ersten Durchführung sind nun Teil des nationalen Netzwerks AGE-NT, in welchem aktuell schweizweit Living Labs aufgebaut werden (siehe Kasten). Die zunehmende Ausstrahlungskraft des Living-Lab-Konzepts findet Christine Kaiser wichtig – auch unter einem gesundheitspolitischen Aspekt. «Spannend und der Finanzierung förderlich wäre, wenn wir zeigen könnten, wie sich mit technischen Assistenzsystemen in Zukunft Kosten sparen lassen.»

Das soziale Umfeld bleibt wichtig

Bei der Verabschiedung an der Haustüre des «lebendigen Labors» ist es Christine Kaiser wichtig, einen Gedanken mit auf den Weg zu geben: «Auch wenn wir die besten Maschinen entwickeln – ohne den Kontakt zu anderen Menschen können wir nicht leben.» Das soziale Umfeld mit Familie, Freunden und Nachbarn werde auch in Zukunft nicht an Bedeutung verlieren.