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Getroffen in «Gleis 8»

Der Webflaneur wechselt die Perspektiven

Lea Müller

An seinem letzten Arbeitstag nahm Reto Eugster bewusst den Zug entgegen der gewohnten Richtung – ein symbolischer Akt. Richtungswechsel hat der ehemalige Leiter des Weiterbildungszentrums in seinem Berufsleben bewusst gesucht und erkannt, dass Umwege auch Wege sind. Nach fast 30 Jahren an der Fachhochschule St.Gallen geht er in Frühpension. Ein Gespräch zum Abschied auf einer spontanen Zugfahrt von St.Gallen nach St.Gallen.

St.Gallen, ab 12.27 Uhr
Das Interview der Rubrik «Getroffen im Gleis 8» findet ausnahmsweise nicht in der gleichnamigen FHS-Cafeteria statt. Zum Abschied von Reto Eugster – einem, der vieles bewegt hat und weiterhin bewegt – wählen wir die Bewegung auf echten Gleisen. Unsere Zugfahrt führt uns in fast drei Stunden mit der S4, dem ersten sogenannten «Ringzug» der Schweiz, von St.Gallen via Uznach und Sargans wieder zurück nach St.Gallen.

Reto Eugster, warum führen wir dieses Gespräch im Zug? Sind Sie ein Bahn-Fan?

Reto Eugster: (lacht) Ich bin kein Bähnler, nein. Aber nach jahrelangem Pendeln haben sich bei mir Vorlieben gebildet, was Bahnstrecken betrifft. Zu einer Rundfahrt mit der S4 bin ich bisher nicht gekommen. Dieses Abschiedsinterview ist nun eine passende Gelegenheit, auch um einen Kreis zu schliessen. An meinem letzten Arbeitstag Ende April hingegen war eine andere Zugfahrt wichtig für mich: An meinem Wohnort Romans­horn stieg ich nicht wie gewohnt in den Zug nach St.Gallen, sondern in den Intercity nach Brig. Diese Zug­reise hatte eine symbolische Bedeutung – es ging mir um ein Ankommen in der «Gegenrichtung».

Sie lassen sich mit 59 Jahren frühpensionieren. Warum?

Eugster: Um für mich weiterzukommen, braucht es den Prozess des Leerwerdens. Ich beschreite den Weg von der Lehre zur Leere. Um mich dann meinen drei Berufungen zu widmen, die sich wie ein roter Faden durch mein Leben ziehen: Lesen, Studieren, Schreiben. Dafür schafft die ­Pensionierung die richtige Ausgangslage. Ich freue mich, Neues zu lernen (überlegt einen Moment). Wobei ich das Lernen spät gelernt habe.

Wann und wie haben Sie das ­Lernen denn gelernt?

Eugster: In meiner Schulzeit hatte ich alles Mögliche im Kopf, nur nicht das Lernen. Anfangs 20 dachte ich, dass aus meiner Berufslaufbahn nichts wird. Ich beschloss, reichlich naiv, auszuwandern und reiste über Jugoslawien nach Griechenland. In Athen erlebte ich den Atem des Urbanen. Ich lebte in den Tag hinein, gab mich dem Rhythmus der Metropole hin. Es war ein Prozess des Leerwerdens.

Und dann erlebten Sie einen Schlüsselmoment?

Eugster: Ja, meine Neugierde erwachte. Ich erlebte mich als lernbedürftig. Mit Fernkursheften aus der Schweiz ergab sich zufällig mein Lernprogramm. Nicht mehr gesteuert durch schulische Vorgaben, stellte sich eine Lern-Euphorie ein.

Lichtensteig, 12.55 Uhr.
Reto Eugster schaut kurz aus dem Fenster. Er erzählt von seiner ­beruflichen Laufbahn. Fast 30 Jahre sei er an der FHS St.Gallen und ihrer Vorgängerschule tätig gewesen. Zunächst als Student: Nachdem der gelernte Typograf zwischenzeitlich als Journalist gearbeitet hatte, entschied er sich für ein Studium an der Ostschweizer Schule für Sozialarbeit (OSSA). 1988 wurde er als Aussendozent gewählt und begann 1990 als Hauptdozent. Daneben studierte er Erziehungswissenschaften mit Schwerpunkt Beratung und Medien. Das Studium schloss er mit einer Promotion ab. 1998 wurde das Institut für Soziale Arbeit IFSA-FHS gegründet, das Reto Eugster viele Jahre leitete. 2013 übernahm er die Leitung des neu geschaffenen Weiterbildungszentrums WBZ-FHS.

Ihre berufliche Laufbahn bezeichneten Sie einmal als «Verkettung glücklicher Umstände». Wie ­meinen Sie das?  

Eugster: Chancen und Optionen fügten sich wundersam ineinander. Ich erkannte, dass auch Umwege Wege sind. Vor allem Pionierrollen interessierten mich, als Gründer eines Instituts, eines Kompetenzzentrums, eines Masterprogramms. Als der Rektor Sebastian Wörwag mich für die Leitung des Weiterbildungszentrums anfragte, war ein Gedanke ausschlaggebend für meine Zusage: «Jetzt kann ich nochmals lernen.» Über Themen wie Palliative Care oder ­­Immobilienmanagement wusste ich kaum etwas. Das WBZ war ein Lerngeschenk.

Nach fünf Jahren ist die Aufbauphase des Weiterbildungszentrums abgeschlossen. Was sind die wichtigsten Errungenschaften?

Eugster: Dank des Einsatzes aller Mitarbeitenden konnten wir das Weiterbildungszentrum erfolgreich positionieren. Ich denke, uns ist es gelungen, die Angebote an den individuellen Lernpfaden der Studierenden auszurichten. «Transfer-Orientierung» ist mehr als eine Marketing-Aussage. Studierende werden von Teilnehmern zu Teilgebern. Um den Transfer von wissenschaftlichem Wissen in den eigenen Erfahrungshorizont geht es. Nun wird die Herausforderung die sein, die Innovationsfähigkeit weiter zu steigern. Auch dafür ist mein Nachfolger Rubén Rodriguez Startz genau der Richtige.

Inwiefern haben sich Bildungsbiografien verändert?

Eugster: Berufliche Laufbahnen entwickeln sich nicht mehr so gradlinig. Früher hat man sich für einen Beruf entschieden und diesen dann oft lebenslang ausgeübt. Aktuell beschleunigt sich durch Aussenfaktoren wie die Digitalisierung die Veränderung von Berufs- und Karriereprofilen. Heute sind neue Lern- und Lehrformen gefragt.

Welche Neuerungen im Bildungsbereich sprechen Sie an?

Eugster: Die angedeutete Individualisierung des Lernens lässt neue Lernformen aufkommen, das Guerilla­-Lernen zum Beispiel: Attraktiv wird, abgewendet von den Hierarchien des Besserwissens, unerwartete Lernanlässe zu nutzen und neue Formen des Lernens unter Einbezug digitaler Tools zu entwickeln.

Wie stehen Sie persönlich zum lebenslangen Lernen?  

Eugster: Meine Erfahrung zeigt, dass das Lernbedürfnis im Alter zunehmen kann. Ich beginne nochmals mit einem Studium. Dazu habe ich mir ein individuelles Studienprogramm an unterschiedlichen Hochschulen zusammengestellt. Zusammenhänge, die ich nicht verstehe, wecken mein Interesse. Ich möchte ihnen auf den Grund gehen. Die Spieltheorie etwa möchte ich vertiefter verstehen. Ansonsten lasse ich mich überraschen: Die Lernanlässe, die einen von selbst erreichen, sind die spannendsten.

Unterterzen, 13.41 Uhr.
Reto Eugster ist in das Gespräch vertieft, die schöne Landschaft am Walensee zieht fast unbemerkt im Zugfenster an uns vorbei. Nach der Diskussion über das Studieren und Lernen wenden wir uns der zweiten grossen Leidenschaft von Reto ­Eugster zu. Das Schreiben sei fast existenziell wichtig für ihn, sagt er. Schon in jungen Jahren habe er geschrieben – private Projekte, Auftragsarbeiten und später auch Buchbeiträge.

Welchen Schreib-Projekten werden Sie sich als Erstes widmen?

Eugster: Ich habe für mich eine Form entwickelt, die mich interessiert. Verkürzt gesagt: Ich konstruiere Kunstfiguren und schreibe aus deren Perspektive. Was ist die Meinung des sprechenden Stuhls über die Therapiesitzung? Zwischendurch gibt es auch Lockerungsübungen und ich huldige schreibend meinem Kater.

Sie haben eine besondere Beziehung zu Ihrer Katze?

Eugster: Ja, vor sieben Jahren habe ich eine Findelkatze, wenige Wochen alt, von einem Bauernhof übernommen und aufgepäppelt. Ich bin quasi zur männlichen Mutter des Katers geworden, ohne ihn vermenschlichen zu wollen. Nun lernen wir aneinander, und ich widme mich meinen Lernerfahrungen schreibend. Wie gesagt: Lockerungsübungen.

Sie pflegen weitere spannende Freundschaften. Auch mit ­Menschen, die Sie noch nie persönlich getroffen haben.  

Eugster: Seit Jahren bin ich über Twitter Teil sozialer Netzwerke. Dazu ­gehört der Taxifahrer und Alltagsphilosoph aus Düsseldorf ebenso wie der Meisterpionier aus Berlin oder die St.Gallerin, die Twitteratur produziert, Literatur im Kürzestformat.

Was zeichnet solche digitale Freundschaften aus?

Eugster: Sie sind oft besser (lacht). Menschen, die mich interessieren, treffe ich selten auf dem Weg zum Bäcker. Andere Wege, Menschen zu begegnen, bietet das Internet. Auf den ersten Blick überwiegt, dass diesen Kontakten das Sinnliche der direkten Begegnung fehlt. Aber ich schätze hier die Entlastung von den Zumutungen der Live-Situation. In solchen Netzwerken sind die Akteure oft gewagter, direkter. Gerade die Grenzen des Mediums faszinieren mich, dieses eigentümliche Verhältnis zwischen Bekanntem und Fremdem. Daran entzündet sich Inspiration.

Sargans, 13.58 Uhr.
Der Zug bleibt kurz im Bahnhof stehen, bevor er weiter ins Rheintal fährt. Reto Eugster erinnert sich an die Pionierphase des Internets und den Moment, als bei ihm die Verbindung erstmals funktionierte: «Läck ich bin im Internet!» Als Wissenschaftler begann er sich mit dem Internet und seinen Erzählungen zu beschäftigen und wurde zum selbsternannten Webflaneur. Er gründete und betreibt noch heute zahlreiche Blogs, darunter bildungshorizont.ch und sozialinformatik.ch. Für letzteren gewann er 2003 einen Preis, was er mit Stolz erzählt. Reto Eugster ist aktiv in den Sozialen Medien, insbesondere bei Twitter und Instagram, und erforscht die Messenger-Kommunikation (siehe Seite 38).

Wie nutzen Sie selbst die Messenger-Kommunikation?

Eugster: Die Möglichkeiten, die sich für Gruppen in der Messenger-­Kommunikation auftun, interessieren mich. Ich bin in verschiedenen Gruppen aktiv. Mich fasziniert, im Alltag über Distanzen hinweg mit faszinierenden Persönlichkeiten – auf Zuruf hin – verbunden zu sein.

Was gefällt Ihnen am Bloggen?

Eugster: Mir gefällt die unmittelbare und schnelle Resonanz, die grösser ist als bei Print-Texten. Das mag zugegeben auch einen narzisstischen Aspekt haben (schmunzelt).

Altstätten, 14.38 Uhr.
Hier ist Reto Eugster aufgewachsen. Der Rheintaler Dialekt verschwand aber schon in jungen Jahren, als er in Zürich lebte. In seiner Kindheit hatte das Lesen eine grosse Bedeutung, erinnert er sich. Bücher seien der Ausgang aus seiner kleinbäuerlichen Welt gewesen und der Grund, warum er den Beruf des Typografen wählte.

Welche Bücher werden Sie als Nächstes lesen?

Eugster: Über die Jahre habe ich viele Bücher gesammelt und gedacht: «Die lese ich dann, wenn ich Zeit habe.» So ist über die Jahre eine regelrechte Bücherreserve entstanden, welche ich nun anzapfen möchte.

Gibt es eigentlich Themen, die Sie nicht interessieren?

Eugster: Mit medizinischen und psychologischen Ratgebern kann ich nichts anfangen und bei Sportsendungen im TV schalte ich ab oder um. Mit einer Ausnahme: Formel 1.

Rorschach, 15.02 Uhr.
Unsere Zugfahrt endet bald wieder in St.Gallen. Zeit, auch den Kreis dieses Abschiedsgesprächs zu schliessen.

Wie werden Sie mit der FHS St.Gallen verbunden bleiben?  

Eugster: Bestimmt emotional. Auch deshalb freue ich mich, den «Badge» behalten zu können: Man wird mich ab und zu im Haus antreffen, da ich noch Lehraufträge wahrnehme. Ich habe mir auch vorgenommen, in der Studentenrolle an Veranstaltungen teilzunehmen. Doch wie gesagt, vorerst geht es um die Mutprobe des Leerwerdens.

Prof. Dr. Reto Eugster

Prof. Dr. Reto Eugster leitete von 2013 bis 2018 das Weiterbildungszentrum WBZ-FHS. Seine Schwerpunkte in der Lehre sind Konflikttheorie und -vermittlung, Beratungswissenschaft und -methodik, Medienwissenschaft und Medienpädagogik.