Archivausgabe
Erkenntnis

Partizipation lässt sich nicht erzwingen

Christian Reutlinger / Annegret Wigger

Jugendpartizipation beschäftigt nicht nur die Jugendarbeit, sondern auch Politik und Wissenschaft. Im öffentlichen Diskurs wird die «mangelnde Partizipationsbereitschaft» und speziell die «Politikverdrossenheit» von Jugendlichen problematisiert. Doch was ist «Partizipation» überhaupt? Welche Bedeutung hat sie für junge Menschen in unserer individualisierten und globalisierten Zeit?

Die EU-Studie PARTISPACE untersuchte und verglich soziales, politisches und kulturelles Engagement junger Menschen in acht europäischen Städten: Bologna (Italien), Eskisehir (Türkei), Frankfurt (Deutschland), Göteborg (Schweden), ­Manchester (Grossbritannien), Plovdiv (Bulgarien), Rennes (Frankreich) und Zürich. Das Institut für Soziale Arbeit der FHS St.Gallen IFSA-FHS vertrat die Schweiz in der vom EU-Forschungsrahmenprogramm «Horizon 2020» geförderten und vom Schweizer Staatssekretariat für Bildung, Forschung und Innovation mitfinanzierten Studie, die Ende April nach drei Jahren abgeschlossen wurde. Die Forschenden interessierten sich für die Fragen: Wie und wo sind junge Menschen aktiv? Welche Absichten verbinden Jugendliche mit ihren Aktivitäten? An welchen Orten und in welchen gesellschaftlichen Bereichen bringen sie sich ein?

Wer partizipiert?

In den acht europäischen Städten wurden detaillierte Analysen der Jugendpartizipation sowie vertiefende Fallstudien durchgeführt. Dabei zeigte sich, dass die Motive, sich zu engagieren, vielfältig sind und es unterschiedliche Ausdrucksformen gibt, um persönliche und gesellschaftliche Anliegen mitzuteilen. Die Annahme, dass grundsätzlich alle Jugendlichen partizipieren, wurde von der Studie bestätigt – Partizipation lässt sich aber nicht erzwingen und bestimmte Ausdrucksformen werden gesellschaftlich gar nicht wahrgenommen oder als  Störung der öffentlichen Ordnung diskreditiert.

Formal organisierte Partizipationsangebote wie Schüler- oder Jugendparlamente sprechen nur einen kleinen Teil von jungen Menschen an. Angebote, in denen Jugendliche sich beteiligen sollen, ohne mitentscheiden zu können, wirken unglaubwürdig. In Gesellschaften mit glaubwürdigen politischen Akteurinnen und Akteuren sowie einem demokratischen System, das als wirksam erlebt wird, sind junge Menschen eher bereit, an politischen Verfahren mitzuwirken.

Wer führt den Diskurs?

Was bedeuten diese Ergebnisse für Jugendarbeit, Wissenschaft und Politik, aber auch für die Jugendlichen selbst? Miteinander etwas machen, sich für eine gemeinsame Sache engagieren, Einfluss nehmen auf Entscheidungen, die alle angehen – so ein Engagement ist voraussetzungsreich. Einerseits müssen Jugendliche etwas verändern wollen und sich das auch zutrauen. Andererseits braucht jedes Engagement Zeit. Durch die Leistungserwartungen im Ausbildungs-, Arbeits- und Freizeitbereich werden Zeit und Energie zu einem knappen Gut.

Primär führen Politik, Fachwelt und Wissenschaft den Partizipationsdiskurs. Jugendliche dagegen sprechen über das, was sie tun, wo sie mitmachen, was sie abschaffen oder verändern wollen – aber nicht über Partizipation. In ihren Aktivitäten und Debatten loten junge Menschen aus, in welchen Feldern sie ganz konkret Einfluss nehmen können. Dabei sind die konkreten Interessen und Inte­ressensgegensätze genauso vielfältig wie sonst in der Gesellschaft. Partizipationskonzepte, die in erster Linie formale Beteiligungsformen berücksichtigen, verschleiern faktisch die tatsächlichen Interessen und Ansprüche von Jugendlichen an die Gesellschaft.

Und jetzt?

In der Jugendarbeit, Wissenschaft und Politik benötigt es veränderte Partizipationskonzepte, die gerade auch die Selbstorganisation von Protesten, Projekten und so weiter in den Blick nehmen. Damit Jugendliche in formal-demokratischen Verfahren ihre Interessen einbringen können, braucht es neue Formen der Interessensartikulation und eine verän­derte Machtbalance zwischen stimmberechtigten Erwachsenen und nicht-stimmberechtigten Jugendlichen. Die Macht- und Verantwortungsteilung darf nicht einseitig vom Ermessensspielraum der mächtigeren Erwachsenen abhängen.

EU-STUDIE PARTISPACE

Das Projekt Partispace geht davon aus, dass alle jungen Menschen partizipieren, aber nicht jede Beteiligung als solche erkannt wird. Deshalb untersucht die Horizon-2020-Studie in einigen Ländern die verschiedenen Möglichkeiten, wie junge Menschen an Entscheidungen partizipieren.

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