Archivausgabe
Brennpunkt

Architektur auf der Werkbank

Andrea Sterchi

Wie? Warum? In welchem Kontext? Diesen Fragen werden die Architekturstudierenden an der Fachhochschule St.Gallen ab September 2017 nachgehen. Im neuen Bachelor of Arts in Architektur erarbeiten sie sich nicht nur einen Werkzeugkasten für künftige Projekte, sie lernen vor allem eines: eigenständig zu denken und ihr erworbenes Wissen reflektiert einzusetzen.

Rezepte sind das eine, sie anzuwenden und erfolgreich zu modifizieren das andere. Eine gute Architektin, ein guter Architekt muss mehr können, als nur in seinen Werkzeugkasten zu greifen oder aus einem Katalog auszuwählen. Im Vordergrund steht längst nicht mehr das einzelne architektonische Werk, sondern die Komplexität der architektonischen Raumbildung mit all ihren formalästhetischen und sozialpolitischen Fragestellungen. «Der Architekt wird immer mehr vom Autor seiner Entwürfe zum Moderator kollektiver Prozesse. Er ist der Generalist, der die Dinge verstehen und zusammenbringen muss», sagt Anna Jessen. Die Basler Architektin zeichnet zusammen mit Thomas Utz, Leiter des Instituts für Innovation, Design und Engineering IDEE-FHS und ebenfalls Architekt, verantwortlich für das didaktische Konzept der Architekturwerkstatt des neuen Bachelor of Arts in Architektur an der FHS St.Gallen. Vor Kurzem hat der Hochschulrat die beiden als Co-­Leitung des Studiengangs gewählt. Thomas Utz sieht den Architekten in der Rolle des Dirigenten. «Er kennt jedes Instrument. Er muss es nicht selbst spielen können. An ihm ist es, die einzelnen Klänge der Musiker zu einer ausgewogenen Komposition zusammenzuführen.»

Lernen in der Werkstatt

Den Studierenden wollen Anna Jessen und Thomas Utz deshalb neben Rezepten vor allem Mentalitäten mitgeben. «Wir wollen ganzheitlich integriertes Wissen vermitteln. Das bedeutet einen anderen Denkprozess», sagt Anna Jessen. Damit will der St.Galler Studiengang einen neuen Akzent in der Architekturausbildung setzen. Im Zentrum steht der praktisch gelebte Werkstattgedanke. Statt vom Allgemeinen zum Spezialisierten, sollen die Studierenden den umgekehrten Weg gehen – vom architektonischen Objekt zum grossen Ganzen. Das Objekt wird sozusagen auf die Werkbank gelegt und auseinandergenommen. So lernen die Studierenden, ein Gebäude in seiner Gesamtheit zu erfassen. Sie fragen, wie wurde es gebaut oder entworfen, und immer auch, warum wurde es so gemacht. «Wir wollen das vernetzte Denken fördern, indem wir Teildisziplinen wie Statik, Bauphysik oder Akustik an einem real existierenden Objekt erarbeiten», sagt Thomas Utz. Auf diese Weise lernen die Studierenden alles, was sie später für die Arbeit in einem Architekturbüro wissen müssen. Sie lernen zudem, und das ist in seinen Augen viel wichtiger, wie ein Architekt, eine Architektin zu denken. «Wir gehen anders an die Dinge heran. Wir analysieren, leiten ab und entwickeln Lösungen.

Wir wollen eine Denkhaltung mitgeben.» Ein Architektur-Programm in ein Gebäude zu übersetzen, ist eine komplexe Aufgabe. «Sie erfordert die Fähigkeit, sich jedes Mal neu in etwas einzuarbeiten, für das es keinen vorgegebenen Lösungsweg gibt», sagt Anna Jessen. «Der Entwurf eines Gebäudes ist immer ein Prototyp.»

ARCHITEKTUR-WERKSTATT ST.GALLEN

Das St.Galler Architekturstudium ist als Architekturwerkstatt aufgebaut. Wissensvermittlung und Umsetzung sind eng miteinander verknüpft. Vorlesungen und Übungen finden im Atelier und in inhaltlich engem Bezug zueinander statt. Das Studium ist modular aufgebaut und besteht aus einem Grund- und einem Hauptstudium sowie einem Thesisjahr. Die Ausbildungseinheiten richten sich nach dem europäischen Transfersystem (European Credit Transfer System). Den Studierenden stehen drei Modelle offen: Vollzeitstudium, kombiniertes Studium und berufsbegleitendes Studium. Das Vollzeitstudium dauert in der Regel sechs, die beiden anderen acht Semester. Abgeschlossen wird es mit einer freien Bachelor-Thesis. (sxa)

Wir wollen den Studierenden eine Denkhaltung mitgeben.

Denken mit den Händen

Der Werkstattgedanke wird im St.Galler Architekturstudium nicht nur im übertragenen Sinne als Lerneinheit gelebt. Die Studierenden arbeiten auch ganz konkret mit Baustoffen. Sie lernen deren unterschiedlichen Eigenschaften kennen, beobachten ihr Verhalten in der Zeit und ihre Veränderung durch den Gebrauch oder das Altern. «Sie erleben das Material und arbeiten damit. Befassen wir uns mit dem Baustoff Holz, dann nehmen wir Holz in die Hand. Geht es ums Fügen, dann fügen wir», sagt Thomas Utz. Das Studium hat durchaus eine handwerkliche Komponente. «Wir gehen eine Fragestellung haptisch an. Wir denken mit den Händen.»

Diese Breite der Ausbildung ist Anna Jessen und Thomas Utz wichtig. Nach Abschluss des Studiums sollen die Absolventen über ein solides, breites Basiswissen verfügen und fähig sein, eigenständig zu denken und zu arbeiten. «Die Arbeit in einem Architekturbüro ist so spezialisiert, weil jedes sein eigenes Programm hat. Dieses Wissen kann ein Studium gar nicht vermitteln», sagt Anna Jessen. «Die Studierenden müssen lernen, sich in ein System einzuarbeiten. Um das zu erreichen, arbeiten wir quasi mit Versuchsanordnungen, die eher dem Trial-and-Error-Prinzip, also vorankommen und zurückfallen, entsprechen, als einem linearen Prozess.»

Zeichner, Schreiner, Maturand

Studieren werden die künftigen Architektinnen und Architekten im Fachhochschulzentrum an der Rosenbergstrasse sowie in der Architekturwerkstatt in der Hauptpost beim Bahnhof St.Gallen. Die Arbeit im Atelier erlaubt einen intensiven Austausch untereinander und zwischen den Semestern. Mit dem Vorteil, dass die Studierenden von einander lernen und von der unterschiedlichen Vorbildung profitieren können. Das St.Galler Architekturstudium richtet sich ebenso an gelernte Hochbauzeichner, Schreiner oder Maurer wie an Maturanden.

Erfahrung in der Arbeitswelt

Eine weitere Besonderheit sind das verlangte Praktikum und der vorbereitende Vorkurs. Wer die Matura gemacht hat und noch keine Erfahrung in einem verwandten Beruf hat, der fällt, können Interessierte den Vorkurs mit vier themenspezifischen Blocktagen besuchen. An diesen werden die Grundlagen des Bauens, planerische Fertigkeiten und das Entwickeln einer eigenen räumlichen Vorstellungskraft vermittelt. Um Praktikumsplätze anbieten zu können, arbeitet die FHS mit Partnerbüros in der Region zusammen. Sie gaben auch den Anstoss zur Wiederbelebung des Architekturstudiums. Seit es 2007 im Zuge der Bologna-Reform aufgegeben wurde, wandern die Studierenden nach Zürich, Winterthur oder Vaduz ab – und kommen nicht mehr zurück. Infolgedessen finden die hiesigen Architekturbüros nicht genügend Fachkräfte.

Guten Architektur verselbständigt sich, sie hat einen eigenen Wert.

Wie ein Kunstwerk

Was aber ist gute Architektur? «Gute Architektur ist, wenn ich sie erlebe, ohne über sie nachdenken zu müssen. Gute Architektur erzählt zunächst nichts vom Autor, sie verselbstständigt sich und hat einen eigenen Wert genauso wie ein Kunstwerk», sagt Anna Jessen. «Gute Architektur möchte einen selbstverständlichen Raum aufspannen.» Überhaupt erhält ihrer Ansicht nach der Raum viel zu wenig Beachtung. «Wir leben in einer stark objektbezogenen Welt. Der Raum an sich hat eine schwache Lobby.» Gerade aber die Gestaltung des Raumes hat eine wichtige sozialpolitische Komponente. «Wie wir den Raum zwischen uns gestalten, klärt unser Verhältnis zueinander», sagt Anna Jessen. Zudem habe die Raumgestaltung ein Gesellschaft bildendes Moment. «Eine Gesellschaft, die sich gründet, gibt sich Gesetze, also Regeln, wie sie leben möchte. Und sie gründet einen Raum, indem das Miteinander einzelner Bauten Räume bildet. Diese Räume ordnen das Leben der Gesellschaft.» Das wirkt sich auf alle Ebenen aus, auf die Raumplanung, den Städtebau, das einzelne Objekt, auf Aussenräume und Innenräume. Für sie ist eine gute Architektin, ein guter Architekt jemand, der den Raum bedenkt, der zunächst die Sensibilität hat, im Raum des Gesamtkontextes die Einzelsituation analysieren zu können, daraus das tatsächliche Problem erkennt und letztlich den Eingriff so gestaltet, dass er von einer weiteren Generation wieder aufgenommen und weitergedacht werden kann. «Was der Architekt macht, betrifft jeden», sagt Thomas Utz. Ein guter Architekt müsse etwas entwerfen, das er und andere erleben können. «Er muss etwas schaffen, das über 100 Jahre besteht, vielleicht nicht allen gefällt, aber so gestaltet ist, dass die Menschen etwas damit anfangen, es lesen können.»

Jetzt möchten er und Anna Jessen in den Studierenden die Freude an der Komplexität der Architektur wecken. Das mache die Faszination am Aufbau des neuen Studiums aus. «Wir haben die Chance, bei Null zu beginnen, befreit von klassischen Unterrichtsmodellen», sagt Anna Jessen. «Einiges wird in der Architekturwerkstatt sein so wie an anderen Ausbildungsstätten. In bestimmten Punkten werden wir aber bewusst neue Wege suchen und uns der Herausforderung stellen, die spezifischen Bedingungen der Situation St.Gallen zu nutzen, um eine zeitgemässe Architekturausbildung neu zu definieren.»