Brennpunkt
Der Kompass zeigt nach innen
Lea Müller
Seit der Volksabstimmung zur Revision des Raumplanungsgesetzes haben Schweizer Gemeinden einen klaren Auftrag: Verdichtet bauen, sprich nach innen statt nach aussen zu wachsen. Für viele ländliche Orte wie Vilters-Wangs bedeutet das langfristig einen Abschied vom Traum des klassischen Einfamilienhauses auf der grünen Wiese. Ein Forschungsprojekt der FHS St.Gallen untersucht lokal angepasste Lösungen und erstellt eine Art «Kompass» für Gemeinden.
Wie bunte Würfel auf einer grossen grünen Wiese verstreut wirken sie auf den ersten Blick, die Einfamilienhäuser der Dörfer Vilters und Wangs. Geranien an den Fenstersimsen, gepflegte Vorgärten. Hier ein Trampolin, dort ein Gartenpool, manchmal auch beides. Die Gemeinde Vilters-Wangs mit 4600 Einwohnerinnen und Einwohnern liegt am Fusse des Pizols, in der Ferienregion «Heidiland» im Sarganserland. Die beiden Dörfer, die seit eh und je zusammengehören und doch eigene Schulen haben und ein getrenntes Vereinsleben pflegen, bieten eine Wohnlage wie aus dem Bilderbuch. Hier, in einer nebelfreien Zone und ohne Durchgangsverkehr, leben Schweizerinnen und Schweizer sowie einige Ausländerinnen und Ausländer – darunter immer häufiger Leute aus dem Fürstentum Liechtenstein – den Traum vom Eigenheim. Nachfrage steigend: Immer mehr gut ausgebildete junge Menschen kehren nach ihren «Wanderjahren» zurück in die Heimat, um ihren (Bau-)Traum zu verwirklichen. «Wir erhalten fast wöchentlich Anfragen bezüglich freiem Bauland», sagt Gemeindepräsident Bernhard Lenherr. Gleichzeitig ist Vilters-Wangs wie alle Schweizer Gemeinden angehalten, die Zersiedelung zu stoppen, also nur noch dort zu bauen, wo bereits gewohnt wird: innerhalb des bestehenden Siedlungsraums. Bei der Innenentwicklung – im Fachjargon auch «Nachverdichtung» oder «Siedlungsentwicklung nach innen» genannt – sucht Vilters-Wangs nun neue Wege. Und ist deshalb Partnergemeinde im Forschungs- und Entwicklungsprojekt «Kompass Verdichtung. Bauliche Verdichtungsprojekte kooperativ umsetzen» des Kompetenzzentrums Soziale Räume an der FHS St.Gallen.
Mehr als Zonenpläne zeichnen
Die Gemeinde Vilters-Wangs hat früh angefangen, sich mit der Raumplanungsrevision zu beschäftigen. «Eine strategische Planung ist heute stärker gefordert als je zuvor», ist Bernhard Lenherr überzeugt. «Ortsplanung bedeutet weit mehr als das Zeichnen von Zonenplänen.» Im Jahr 2012 lancierten die Behörden eine Bevölkerungsumfrage, um wichtige Hinweise in das Konzept der Richtplanung einfliessen lassen zu können. Nach der Volksabstimmung im Jahr 2013 zur Revision des Raumplanungsgesetzes – in Vilters-Wangs lag die Zustimmung bei 59 Prozent – konnten die Behörden rasch einen Masterplan zur Innenentwicklung vorlegen. Der Gemeinderat habe eine klare Vorstellung für die Zukunft, sagt Bernhard Lenherr: «Wir wollen qualitativ wachsen und unsere beiden Dörfer erneuern, aber gleichzeitig die beschauliche Landsgemeinde bleiben, die wir sind – mit all ihren Qualitäten.»
Ortsplanung bedeutet weit mehr als das Zeichnen von Zonenplänen.
Der Masterplan hat's in sich
Wachsen ohne im Siedlungsgebiet den Gürtel vergrössern zu müssen – die «Innenverdichtung» soll's möglich machen. Im Masterplan Innentwicklung hat die Gemeinde Leerstände und Gebiete mit Verdichtungspotenzial identifiziert. «In beiden Dörfern sind Baulücken und alte Objekte vorhanden, die sich für das verdichtete Bauen anbieten», sagt Bernhard Lenherr. Bauvorhaben innerhalb dieser Gebiete will die Gemeinde mit Überbauungsplänen und Förderbeiträgen an Sondernutzungspläne unterstützen. Ziel ist es, möglichst früh mit Investoren und Grundeigentümern ins Gespräch zu kommen und sie frühzeitig auf die rechtlichen und gestalterischen Vorgaben der Gemeinde aufmerksam zu machen. Der Masterplan sowie ein neues 3D-Raumplanungs-Tool dienen dabei zur einfacheren Vermittlung dieser Grundlagen und sollen geplante Vorhaben besser veranschaulichen. «So möchten wir auch Einsprachen aus der Bevölkerung vorbeugen», sagt Lenherr.
Mit Widerständen gegenüber baulichen Verdichtungsprojekten haben viele Gemeinden zu kämpfen. Immer wieder scheitern Vorhaben, berichtet die Architektin Eva Lingg vom Kompetenzzentrum Soziale Räume der FHS St.Gallen. Oftmals seien die Akteurinnen und Akteure zu zahlreich und ihre Interessen und Handlungsmöglichkeiten zu unterschiedlich, um einen Konsens zu finden. Dazu komme, dass bei den Stichworten «verdichtetes Bauen» und «verdichtetes Wohnen» in der Bevölkerung schnell Schreckensgespenster wie «Verkehrszunahme» oder «Hochhaussiedlungen» auftauchen, mit welchen ein Verlust der dörflichen Identität und bestehender Nachbarschaft verbunden werde. Sorgen, mit denen auch der Gemeindepräsident von Vilters-Wangs konfrontiert ist. Er sucht deshalb aktiv das Gespräch mit den Einwohnerinnen und Einwohnern. «Die Erfahrung zeigt, dass Ängste meistens unbegründet sind.»
Das Zusammenleben fördern
Wird in ein Quartier baulich eingegriffen, hat das immer auch Auswirkungen auf das Zusammenleben. «Wenn dichter zusammengelebt wird, können natürlich auch vermehrt Konflikte zwischen den Bewohnerinnen und Bewohnern auftreten, aber es hat auch positive Auswirkungen, wie etwa die Chance auf vermehrten sozialen Austausch, das Ausprobieren innovativer Wohnkonzepte oder neuer wohnbezogener Angebote», sagt Eva Lingg. Als positives Beispiel in ViltersWangs nennt Bernhard Lenherr den Bau eines privaten Generationenhauses mit 34 Betten im Alters- und Pflegebereich und integrierter Kindertagesstätte. «Die nachbarschaftlichen Beziehungen zwischen Jung und Alt funktionieren sehr gut», sagt er. Ein weiteres gelungenes Projekt sei eine neue Überbauung mit drei Mehrfamilienhäusern. Die Gemeinde konnte dem Grundeigentümer in der Planungsphase anschaulich aufzeigen, dass bei einer alternativen Anordnung der Gebäude ein Innenhof entsteht, der wiederum die Qualität des Zusammenlebens fördern kann. «In diesem Fall ist es uns gelungen, soziale Fragen von Anfang an mitzudenken», sagt Bernhard Lenherr.
Für die bauliche Verdichtung gibt es weder ein Kochrezept noch einen Königsweg.
Noch stiefmütterlich behandelt
Das ist keine Selbstverständlichkeit, wie Eva Lingg betont: Vielfach würden soziale Aspekte in baulichen Verdichtungsprojekten noch stiefmütterlich behandelt. Das Forschungsprojekt des Kompetenzzentrums Soziale Räume setzt deshalb an diesem Punkt an: «Wir möchten in Zusammenarbeit mit unseren Partnergemeinden herausfinden, wie und an welchem Punkt im Planungsprozess soziale Aspekte nachhaltig einbezogen werden können.»
Entstehen soll nach Projektabschluss ein «Kompass Verdichtung», ein forschungsbasiertes, marktfähiges Instrumentarium, das den Gemeinden zur Standortbestimmung dient und als Orientierungshilfe neue Wege im Umgang mit baulicher und sozialer Dichte aufzeigen kann. Die Wissenschaftlerin betont, dass es für die Planung und Entwicklung von baulichen Verdichtungsprojekten weder ein Kochrezept noch einen Königsweg gibt. «So verschieden Gemeinden sind, so unterschiedlich sollten auch die Herangehensweisen an Verdichtungsprozesse sein», sagt Eva Lingg. Gefragt seien lokal angepasste Lösungen. Und diese entsprächen vielleicht nicht den gängigen Vorstellungen. Verdichtetes Bauen bedeute nicht immer in die Höhe zu bauen. «Zwischen dem Einfamilienhaus und dem mehrstöckigen Wohnhaus gibt es noch andere Formen.» Zum Beispiel verdichtete Reihenhaus- oder Hofhäuser, die Wünsche wie Privatheit, einen eigenen Garten oder Distanz zu den Nachbarinnen und Nachbarn trotzdem erfüllen können.
In Vilters-Wangs hat man das Stichwort «horizontale Verdichtung» mit grossem Interesse aufgenommen. «Wir hoffen, dass der ‹Kompass Verdichtung› Beispiele aufzeigen kann und Argumente liefert für Gespräche mit Investorinnen und Investoren», sagt Bernhard Lenherr. Der Traum vom Eigenheim ist nicht ausgeträumt. Ein Abschied vom traditionellen Bild des Einfamilienhauses auf der grünen Wiese hingegen scheint unumgänglich.