Brennpunkt
Verdichtet bauen, aber wie?
Lea Müller
Die Umsetzung von Bauprojekten, die in ein bestehendes Quartier eingreifen, ist schwierig und anspruchsvoll – insbesondere wenn baulich verdichtet werden soll. Wenn unterschiedliche Interessen der Akteurinnen und Akteure aufeinandertreffen, tun sich schnell Gräben auf. Ein Gespräch mit einer Architektin, einer Soziologin und einer Stadtplanerin über die Herausforderungen des verdichteten Bauens.
Was hat für Sie beim «Bauen» Priorität: Der Mensch, die Architektur oder die Raumplanung?
Eva Lingg, Architektin: Prinzipiell steht der Mensch beim Bauen immer im Mittelpunkt – nicht nur als Nutzer, sondern auch als professioneller Gestalter. Die Architektur ist gemacht und erdacht von Menschen für Menschen – immer auch mit einem ästhetischen Anspruch.
Patricia Roth, Stadtplanerin: Im Kern geht es auch in der Raumplanung darum, den Lebensraum der Menschen für die Zukunft strategisch zu planen – und nicht nur auf Entwicklungen zu reagieren. Im Idealfall kommen also übergeordnete raumplanerische Ziele den Menschen, die vor Ort leben, zugute.
Nicola Hilti, Soziologin: Aus soziologischer Sicht ist klar, dass der Mensch beim Bauen und auch beim Forschen über das Bauen im Mittelpunkt steht. Denn die Gesellschaft und die darin lebenden Menschen sind quasi unser Kerngeschäft.
Trotzdem ist es eine Idealvorstellung, dass der Mensch beim Bauen immer im Mittelpunkt steht. Wie sieht die Praxis aus?
Eva Lingg: Beim Bauen ist es wichtig, dass die verschiedenen Ansprüche möglichst früh gemeinsam gedacht werden. In der Praxis ist es aber oft so, dass eine Gestaltungsperspektive die Führung übernimmt. Meist überwiegt eine finanzielle oder rechtliche Logik.
Patricia Roth: Planungsprozesse in Bauprojekten, insbesondere bei Innenentwicklungsprojekten, sind sehr komplex. Die Interessen der Akteurinnen und Akteure können sehr unterschiedlich sein und müssen ausgehandelt werden. Manche Beteiligte sind in diesem Prozess weniger mächtig als andere.
Nicola Hilti: Wir sehen es darum als eine unserer Aufgaben, sicherzustellen, dass die sozialen Aspekte nicht vergessen werden. Viele Gemeinden denken diese zwar anfangs mit. Doch neben den harten kalkulierbaren Faktoren bleiben sie im Prozess häufig auf der Strecke.
Warum haben soziale Aspekte eine vergleichsweise kleine Bedeutung?
Eva Lingg: Dass die sozialen Aspekte wichtig sind, ist mittlerweile auch in der «harten» Baubranche angekommen. Nur nimmt damit die Komplexität dieser oftmals schon sehr schwierigen Verdichtungsprozesse noch zu.
Nicola Hilti: Ich denke, es hat auch damit zu tun, dass es beim Gebauten und beim Sozialen kein Ursache-Wirkungs-Prinzip gibt. Gelungenes Zusammenleben lässt sich nicht einfach «bauen», lediglich baulich positiv oder negativ beeinflussen. Am Ende machen die Menschen immer noch ihr «eigenes Ding» daraus.
Welche gesellschaftlichen Herausforderungen prägen das Bauen und Wohnen der Zukunft?
Nicola Hilti: Die zentrale Herausforderung erscheint uns, dass sich die Gesellschaft rascher verändert als die gebaute Umwelt. Auf die soziale Dynamik baulich zu reagieren, ist nicht einfach. Es gilt, Wohnraum für vielfältigere und dynamischere Lebensformen zu schaffen. Ein Haushalt verändert sich heute zum Beispiel nicht nur chronologisch im Lebensverlauf, sondern zyklisch. Das heisst eine Wohnung muss eine Woche fünf Personen, dann wieder nur zwei beherbergen, etwa bei so genannten Patchworkfamilien oder im Kontext von mobilen Lebensformen. Ganz wichtige Themen heute und in Zukunft sind auch das leistbare Wohnen und das Wohnen im Alter.
Eva Lingg: Das nationale Raumplanungsgesetz gibt den Gemeinden in der Schweiz vor, nach innen zu verdichten. Das heisst, nicht mehr auf der grünen Wiese zu bauen, sondern dort, wo bereits gewohnt wird. Mit der Forderung nach einer kompakten Siedlungsentwicklung wird sich das Zusammenleben nachhaltig verändern, wir rücken näher zusammen. Das ist eine Herausforderung, welche die Gemeinden derzeit stark beschäftigt und manchmal auch leicht überfordert.
«Verdichtung» ist für viele Einwohnerinnen und Einwohner ein Reizwort. Warum?
Patricia Roth: Mit Verdichtung wird mitunter «Veränderung», «Zuzug», «Fremdes» assoziiert. Das kann auch Unsicherheiten auslösen. Wie die Volksabstimmung zur Revision des Raumplanungsgesetzes gezeigt hat, ist die Bereitschaft zum verdichteten Bauen grundsätzlich vorhanden. Aus den Unsicherheiten oder auch aus einer Zufriedenheit mit dem Bestehenden kann sich jedoch die Haltung entwickeln: «Verdichten ja, aber bitte nicht vor meiner Haustüre.»
Eva Lingg: In vielen Fällen fehlt das Bewusstsein, dass Verdichtung in unterschiedlichen Gemeinden auch unterschiedlich umgesetzt werden sollte. Zwischen dem Einfamilienhaus und der Hochhaussiedlung gibt es viele Varianten verdichteten Bauens.
Nicola Hilti: In einer ländlichen Gemeinde sind ganz andere Lösungen gefragt als in einem Stadtquartier. Wir haben den Eindruck, dass oftmals auch das Wissen um gute Beispiele fehlt.
Was sind solche Beispiele?
Nicola Hilti: In Zürich gibt es unter anderem die bekannten und innovativen «Flaggschiffe» wie die Kalkbreite und das Hunzikerareal, bei welchen Partizipation und experimentelle Wohnformen wichtige Bestandteile sind. Fläsch, Lichtensteig und Monte Carasso sind interessante Beispiele für gelungene Innenentwicklung in kleineren Ortschaften.
Liegt es an fehlenden Vorbildern, wenn bauliche Verdichtungsprozesse in Gemeinden scheitern?
Patricia Roth: Vorbilder können Orientierung geben. Letztlich aber müssen bauliche Verdichtungsprojekte ortsspezifisch und im lokalen Kontext geplant werden. Verdichtung ist dabei nicht nur ein planerisches Anliegen, sondern auch ein gesellschaftliches. Das heisst, es muss eine Aushandlung stattfinden, in die auch die Bevölkerung einbezogen wird.
Eva Lingg: Es ist auch entscheidend, welche Rolle die Gemeinde in einem baulichen Verdichtungsprozess übernimmt und wie sie informiert. Doch zurück zum Scheitern: Scheitern ist nicht per se etwas Schlechtes. Die bauliche Verdichtung bringt eine grosse Veränderung in unseren Siedlungsraum und hier sind Schnellschüsse nicht zielführend. Es geht auch darum, aus dem Scheitern zu lernen und den Prozess vielleicht anders zu denken.
Der Prozess des verdichteten Bauens ist komplex und dynamisch. Wie lässt er sich steuern?
Patricia Roth: Eine entscheidende Rolle kommt der Gemeinde zu. Wenn sie gemeinsam mit ihren Bewohnerinnen und Bewohnern eine klare Vorstellung ihrer Planungsziele entwickelt, kann sie auch souverän gegenüber Investorinnen und Investoren auftreten – und das Mitdenken der unterschiedlichen Perspektiven von Anfang an steuern.
Nicola Hilti: Um auch die sozialen Aspekte nachhaltig im Prozess zu verankern, müssen die Akteurinnen und Akteure die langfristigen Vorteile davon kennen. Für Gemeinden sowie Investorinnen und Investoren kann heute das Berücksichtigen von weichen Faktoren durchaus ein Alleinstellungsmerkmal und ein Marktvorteil sein, beispielsweise im Bereich Unterstützungs- und Dienstleistungen im Rahmen von Alterswohnformen.
Eva Lingg: Uns ist wichtig zu vermitteln: Es ist nicht nur eine moralische Verpflichtung, an die Menschen zu denken, für die man baut. Es ist ein Wert, der sich auszahlt.