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Brennpunkt

Wie die Architektur zum guten Leben beiträgt

Essayistische Anmerkung eines Nicht-Architekten

Architektur gilt als die älteste und am meisten zweckgebundene der bildenden Künste. Ohne Zweifel ist sie deshalb als eine kulturelle Leistung des Menschen zu betrachten: Sie ermöglicht dem Menschen eine gewisse Unabhängigkeit von der ihn umgebenden natürlichen Umwelt, eröffnet ihm damit die Veränderung dieser und die Chance, die gebaute Umwelt nach seinen je eigenen Vorstellungen zu gestalten.

Der Mensch ist betroffen

Folglich erstaunt es nicht, dass Architektur die Emotionen der Menschen weckt und über Ästhetik, Sinnhaftigkeit, Form und Funktion heftig gestritten wird – nicht nur repräsentative Bauten oder Bauwerke von Stararchitekten stehen dabei im Mittelpunkt, sondern nahezu alle Behausungen bergen das Potenzial ausgedehnter Diskussionen in sich. Ihren Grund hat die hohe Sensibilität darin, dass sowohl das Individuum als auch die Gemeinschaft von Bauten im vollen Sinn des Wortes betroffen sind: Sie prägen unsere Umwelt, wir müssen in ihnen leben und arbeiten und nicht zuletzt umgeben sie uns permanent; sie haben deshalb einen Einfluss auf unser Wohlbefinden. Doch damit ist nur eine Seite der Betroffenheit des Menschen durch die Architektur skizziert. Die andere Seite der aktiven Gestaltungsaufgabe der Architektur besteht darin, rationale Vorschläge zur Lösung von Problemen des Zusammenlebens von Menschen zu unterbreiten. Diese Forderung findet sich unter anderem auch in den Konzeptionen von Idealstädten unterschiedlichster Utopien: So, wie Utopien als idealtypischer rationaler Gegenentwurf auf unbefriedigende bestehende gesellschaftliche Verhältnisse reagieren, so reflektieren die Architekturkonzeptionen das jeweilige Ideal menschlichen Zusammenlebens.

Der Humanist Thomas Morus beschrieb in seinem Werk «Utopia», einer der bekanntesten Utopien, diese soziale Funktion von Architektur bereits deutlich: Nicht die reine Formsprache der Architektur ist hierbei wesentlich, sondern ihr Einbezug in die Verwirklichung des guten Lebens für das gesamte Gemeinwesen, das bonum commune. Das gute Leben ist dabei nicht mit dem angenehmen Leben im Sinne eines bequemen Lebens zu verwechseln, für das die Architektur zu sorgen hätte. Gutes Leben meint, verkürzt formuliert, ein gelingendes Leben für alle Mitglieder der Gemeinschaft zu ermöglichen, wofür die Architektur ihren Beitrag zu leisten hat. Diese Vorstellungen gründen im Wesentlichen in den Überlegungen von Aristoteles zu Politik und Ethik. Aristoteles’ rationales Ordnungsmodell des bonum commune, innerhalb dessen die Architektur eingebunden ist, findet sich nicht nur in den Idealstädten der Utopien, sondern beeinflusste die humanistisch geprägten italienischen Stadtstaaten der Renaissance ebenso wie die sich entwickelnden Territorialstaaten. Aber auch moderne Reformbewegungen wie das Bauhaus sind hier einzuordnen.

Der Architekt ist verantwortlich

Diese kurze Skizze mag genügen, um die enorme Bedeutung der Architektur für den Menschen aufzuzeigen. Mithin kann der Architektur eine ethische Relevanz unterstellt werden, wie sie insbesondere an der grossen Verantwortung des Architekten plastisch wird: Er hat sich nicht nur gegenüber den rechtlichen Instanzen zu verantworten (liability), sondern muss sein Tun und/oder Unterlassen auch gegenüber ethischen Anforderungen legitimieren können. Und zwar in zweifacher Hinsicht: Retrospektiv ist er für konkrete Fehler, negative Folgen und fahrlässiges Handeln rechenschaftspflichtig (accountability); prospektiv besitzt er eine Mit-Verantwortung für eine möglichst positive Zukunft des bonum commune und hat entsprechend dafür Sorge zu tragen (responsibility).

Dieser Verantwortung gerecht zu werden, ist für den Architekten kein einfaches Unterfangen, da er mit unterschiedlichen Partikularinteressen konfrontiert wird und für mögliche Zielkonflikte zwischen Auftraggebern, Nutzern, der Öffentlichkeit und eventuell auch eigenen Ansprüchen Lösungen finden muss. Zudem wird der Architekt immer mit Fragen der nachhaltigen Entwicklung konfrontiert sein, und zwar aus einem simplen Grund: Mit der Errichtung von Gebäuden wird in jedem Fall in die natürliche Umwelt eingegriffen, diese verändert sowie (teilweise) zerstört, und schliesslich zieht Bauen unvermeidlich einen Ressourcenverbrauch nach sich.

Die Ethik ist unverzichtbar

Auf solche Herausforderungen Antworten zu finden, kann nicht allein mit Mitteln des technischen Fortschritts oder mit besonderer Kreativität erreicht werden, sondern benötigt als Massstab die ethische Reflexion. Wie in jeder anderen anwendungsorientierten Ethik auch, liegt die besondere Herausforderung in der Abwägung dessen, was zu tun und was zu unterlassen ist. Für moralische Probleme gibt es eben nicht einfache Lösungen, sondern sie erfordern ein vertieftes Wissen, um die unvermeidliche Abwägung auch legitimieren zu können.

Die Auseinandersetzung zwischen Architektur und Ethik steht, von einzelnen Beiträgen einmal abgesehen, noch in ihren Anfängen. Wenn Architekten für Menschen bauen, dann sollten sie auch eine Ahnung davon haben, was das Wesen des Menschen auszeichnet. Solches Wissen findet sich allerdings kaum in den gegenwärtigen Kontroversen um Architektur. Umso zwingender ist es, dass ein Architekturstudium eine vertiefte ethische Auseinandersetzung beinhaltet und zum unverzichtbaren Bestandteil desselben erklärt wird. Das hilft nicht nur den Architekten, sondern uns allen.

Prof. Dr. Mathias Lindenau

Dozent im Fachbereich Soziale Arbeit an der Fachhochschule St.Gallen und Leiter des Zentrums für Ethik und Nachhaltigkeit ZEN-FHS.