Erkenntnis
Mit Zeit statt mit Geld zahlen
Nina Rudnicki
Freiwillig Hochbetagte betreuen und davon profitieren, wenn man selber alt ist: So funktioniert das St.Galler Zeitvorsorge-Modell. Nicole Lieberherr, Master-Studentin in Sozialer Arbeit und Wissenschaftliche Assistentin an der FHS St.Gallen, hat das Modell in ihrer Bachelorarbeit untersucht – und damit einen Förderpreis gewonnen.
Wenn von rund 80'000 Einwohnerinnen und Einwohnern der Stadt St.Gallen mindestens 300 Personen als Zeitvorsorgende arbeiten, kann das gleichnamige Projekt langfristig funktionieren. Davon ist Nicole Lieberherr, Master-Studentin und Wissenschaftliche Assistentin am Institut für Soziale Arbeit an der FHS St. Gallen, überzeugt. Die 51-Jährige hat im Rahmen ihrer Bachelor-Arbeit «Die Zeitvorsorge – ein zeitversetztes Geben und Nehmen» das St.Galler Zeitvorsorge-Modell untersucht. Im August 2016 wurde sie dafür mit einem Förderpreis der Senevita Stiftung für Lebensgestaltung ausgezeichnet. Die Senevita Stiftung hat zum Zweck, Wohnen und Leben im Alter qualitativ zu verbessern.
Darum geht es auch in der Zeitvorsorge: Das Modell sieht vor, dass sich Rentnerinnen und Rentner freiwillig um Hochbetagte kümmern. Im Gegenzug erhalten sie Zeit auf ihr Konto gutgeschrieben. Wenn sie später selbst auf Hilfe angewiesen sind, können sie ihr Zeitguthaben einlösen. Das Projekt läuft seit zwei Jahren, aktuell machen rund 90 Zeitvorsorgende mit.
Entspricht 16 Vollzeitstellen
«Das Geniale am St.Galler Zeitvorsorge-Modell ist, dass es sich nicht alleine auf die Zivilbevölkerung stützt, sondern die Stadt eine Garantieleistung übernimmt», sagt Nicole Lieberherr. Zudem gebe es eine Geschäftsstelle, die sich um die Zeitvorsorgenden kümmert. Zu deren Aufgaben gehören unter anderem Fahrdienste, Ausflüge, Gartenarbeit und administrative Dienste. «Wenn man davon ausgeht, dass ein Zeitvorsorgender ein bis zwei Stunden pro Woche im Einsatz ist, entspricht das bei 300 Personen bereits 16 Vollzeitstellen», sagt sie. «Die Kosten für die Geschäftsstelle sind damit bereits mehr als als gedeckt.» Zudem entspreche dieses Modell dem Grundsatz «ambulant vor stationär» der Alters- und Generationenpolitik der Stadt. Den Hochbetagten soll es ermöglicht werden, solange wie möglich selbstbestimmt im eigenen Haushalt zu leben.
Die Zeitvorsorge schätzt Nicole Lieberherr als ein bis ins Detail durchdachtes System ein, das gleichermassen «innovativ und revolutionär» ist. Es bedingt aber ein gesellschaftliches Umdenken. Einerseits, weil statt mit Geld mit einer Komplementärwährung bezahlt wird, also mit Zeit. Andererseits, weil dadurch die Geben-Nehmen-Erwartung inexistent wird. «Die älteren Menschen müssen nicht mehr das Gefühl haben, dass sie den ehrenamtlichen Helfenden nun als Dank beispielsweise einen Fünfliber zustecken müssen. Denn die Freiwilligen bekommen die Leistung eines Tages von jemand anderem zurück», sagt sie.
Das Neuartige des Systems ist allerdings nicht nur dessen Stärke, sondern zugleich dessen Schwachstelle: Denn die 90 Zeitvorsorgenden innerhalb zweier Jahre liegen unter den Erwartungen der Projekt-Initiierenden. Der Erfolg des Projektes hängt aber gerade stark davon ab, wie viel Zeit das Umdenken in unserer Gesellschaft erfordert. Ziel muss laut Nicole Lieberherr daher sein, dass sich das Zeitvorsorge-Projekt rasch national etabliert. Denn momentan verfällt das Zeitguthaben einer Person, wenn sie aus der Stadt St.Gallen wegzieht. Gerade in diesem Zusammenhang empfindet sie den Senevita-Preis für ihre Bachelor-Arbeit als äusserst wichtig. «Dadurch erhält das Zeitvorsorge-Modell ein weiteres Mal schweizweit Aufmerksamkeit und wird bekannter», sagt sie. Und natürlich sei es auch eine Anerkennung ihrer eigenen Arbeit.
Arbeiten auf die Minute genau
Welche Bedeutung Projekte wie die Zeitvorsorge für die Gesellschaft im Alltag haben, weiss Nicole Lieberherr aus eigener Erfahrung. Vor ihrem Studium hat sie jahrelang als Pflegehelferin in Pflege- und Altersheimen gearbeitet. «Wegen der Sparmassnahmen und dem enormen Zeitdruck hat man als Pflegende keine freie Minute, um sich mit den Bewohnerinnen und Bewohnern zu unterhalten», sagt sie. Gleich sieht die Situation bei ambulanten Pflegenden wie beispielsweise von der Spitex aus. Auch sie müssen einen genauen Zeitplan einhalten. Haben Hochbetagte keine Familienangehörige in ihrer Nähe, ist die Gefahr der Vereinsamung gross.
Das Thema Zeitvorsorge möchte Nicole Lieberherr wissenschaftlich weiterverfolgen. Naheliegend sei, dass sie beispielsweise ihre Masterarbeit darüber schreibe. «Denn noch sind viele Fragen ungeklärt», sagt sie. «Beispielsweise, wie gut die Betreuung der Zeitvorsorgenden wirklich ist und wie noch mehr Zeitvorsorgende gewonnen werden können.»