Schlusspunkt
Erotiker der Tapete
Ludwig Hasler, Publizist und Philosoph
Sie ziehen Wohnhäuser hoch, Bürosilos, Flughäfen. Klar. Vor allem basteln Architekten am Menschen herum. Sogar an mir. An Ihnen sowieso. Also Vorsicht. «Warum ist Amerika ein derart gewalttätiges Land?» Oscar Wilde, der exzentrische Ästhet, hatte eine patente Antwort: «Weil Amerikaner so hässliche Tapeten haben.» Genial. Nicht von Natur sind wir tobsüchtig oder charmant. Wir entwickeln uns durch Anpassung an Aussenreize. Wir richten uns nach dem, was uns umgibt, was wir zu sehen kriegen: nach den Tapeten, den Kulissen, in denen wir arbeiten, wohnen, uns amüsieren. Geben uns die Tapeten Spielraum, Ausblick, Licht, leben wir auf. Machen sie uns klein, nehmen sie uns die Luft, dann schrumpfen wir, werden spiessig – oder rasten aus. Wir sind keine souveränen Geister. Wir sind beeindruckbar.
Das Leben ist kein Fantasy-Film
Brauchen wir also Architektur mit Wow!-Faktor? Bitte nicht. Bloss keine Baukultur für Event-People. Architektur ist eine Kunst des Hintergrundes. Sonst wird es anstrengend. Wer will sich täglich Gebäude ansehen, die wild herumfuchteln, Grimassen schneiden, ganz dringend beachtet werden wollen? Da wird ja selber verrückt, wer da drin leben muss. Das Leben ist kein Fantasy-Film. Mir reicht es, wenn Architektur mit dem Mief spiessiger Häuslichkeit aufräumt, das Biedere, Beengende in eine Klarheit und Helligkeit überführt, ganz im Sinne von Karl Kraus: «Ich verlange von Architektur nicht Gemütlichkeit, gemütlich bin ich selber.»
Architektur ist so schon die aufdringlichste aller Künste. Wer Pipilotti Rists Videokunst nicht mag, geht am Museum vorüber, wer Johannes Brahms nicht liebt, spielt weiter Pokémon go, wer meine Texte nicht schätzt, überblättert sie. Lauter Angebote, nichts als Offerten. Architektur dagegen: schiere Nötigung. Türmt sich vor uns auf, streckt sich vor uns hin. Versperrt uns den Weg, verwehrt uns die Sicht. Ödet uns an – oder weckt unseren Blick. Lässt uns kalt – oder macht uns lachen.
Architekten basteln am Menschen. Schon klar? Wir sind, wie gesagt, keine souveränen Geister. Wir spuren. Architekten spuren vor. Sie bauen, ob sie wollen oder nicht, stets mit am Selbstverständnis menschlicher Existenz. Sie formen mit am Verständnis liberaler Gesellschaft. Sie bauen, ob sie wollen oder nicht, ein Treibhaus für Fantasie und Innovationslust – oder ein Krankenhaus für Verkümmertheit und Einsamkeit. Sie schrauben am Gehäuse humaner Lebensart.
Architektur als Animierbetrieb
Darum sollten Architekten ihren Job erotisch nehmen. Erotik ist was anderes als Bedürfnisbefriedigung. Also nicht bloss abchecken: Wie viele Quadratmeter braucht so ein Idiot zum Schlafen, Essen, Fernsehen? Sondern: Was braucht so ein Idiot, um vielleicht keiner mehr zu sein? Architektur nicht bloss als Unterkunft für primäre Lebensbedürfnisse. Eher als Animierbetrieb. Wohnung und Büro als Stimulanz der Sinne. Als Anreiz, mal was zu tun statt zu motzen. Selber zu denken, mutig zu handeln. Architektur nicht als Dienstleistung, sondern als Lebensleistung: den Leuten ein paar Lebensvarianten locker zu machen.