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Brennpunkt

Die Zukunft verlangt digitale Mündigkeit

Andrea Sterchi

Digital, interaktiv, virtuell: Die neuen Medien fordern von uns bereits heute und noch stärker in Zukunft eine ­umfassende Medienkompetenz. Gefragt sind technisches Know-how, kritisches Hinterfragen und Datensensibilität. Aber auch Kreativität und verantwortungsvolles Denken und Handeln. Nur so werden wir digital mündig und können die neuen Medien bewusst nutzen und ihre Entwicklung aktiv mitgestalten.

Neue Medien? Auch das Fernsehen war einmal neu und selbst das World Wide Web ist bereits 30 Jahre alt. Das «Neu» verändert sich also stetig. Heute verstehen wir unter den Neuen Medien diejenigen Medien, die Daten digital übermitteln. Was sie zudem unter anderem von den traditionellen Medien abgrenzt, ist ihre Interaktivität und Virtualität. Statt Einbahn-Kommunikation erlauben die Neuen Medien einen wechselseitigen Austausch in einer Welt, welche die reale Wirklichkeit ergänzt. Virtuelle Realität, Big Data und das Internet der Dinge (IoT – Internet of Things)sind die «Neuen» Neuen. «Wichtig ist jedoch, dass die Medien und die sie bezeichnenden Begriffe immer einen starken Nutzungsbezug haben. Sie ­gehen einher mit neuen Formen der Anwendung oder der Kommunikation», sagt Selina Ingold, Projektleiterin am Institut für Innovation, Design und Engineering der Fachhochschule St.Gallen sowie Dozentin und Leiterin des CAS-Lehrgangs Medienpädagogik. So haben beispielsweise die Sozialen Medien die klare Trennlinie zwischen dem Sender und dem Empfänger aufgeweicht. «Die Nutzerinnen und Nutzer wurden zu Prosumierenden – zu Produzierenden und Konsumierenden in einem.»

Sensibilisierung dank «Camebridge Analytica»

Neue technologische Entwicklungen und ihre Anwendung verändern unseren Umgang mit der Technik und unser Zusammenleben. Jüngstes Beispiel: der Datenskandal rund um Camebridge Analytica. «Er machte vielen bewusst, was es heisst, die eigenen Daten aus der Hand zu geben», sagt Selina Ingold. Und er sensibilisierte viele, die Informationen in den Sozialen Medien nicht einfach so hinzunehmen, sondern ihren Wahrheitsgehalt zu hinterfragen. «Ob und wie das den Umgang mit persönlichen Daten  aber wirklich verändern wird, ist eine andere Frage. ‹Meine Daten sind nicht interessant›, ist eine weitläufig geäusserte Meinung.» 

Wie Studien zeigen, hat die mobile Nutzung des Internets in den vergangenen Jahren stark zugenommen, bei Jung und Alt. Die Jugendlichen nutzen das Internet aber anders und aus anderen Gründen als die Erwachsenen. «Kommunikation, Information und Unterhaltung stehen bei ihnen im Vordergrund. Sie nutzen Soziale Netzwerke wie Snapchat und Instagram intensiv und kommunizieren häufig in Gruppen über Messenger wie Whats­App», sagt Selina Ingold. 

Junge mögen bewegte Bilder, Ältere das geschriebene Wort

YouTube-Videos und Streaming- Dienste sind bei den Jungen beliebter als bei den Erwachsenen. Letztere nutzen das Internet vor allem für die E-Mail-Kommunikation und zur Informationssuche. «Und sie lesen regelmässig Online-Nachrichten auf den Portalen von Zeitungen oder anderen Medien.» Während den Jungen die Kommunikation über bewegte Bilder wichtiger ist (siehe Beitrag auf Seite 27), schätzen Erwachsene noch immer das (geschriebene) Wort. 

Die Technik hinter den Medien verstehen

Die Motive und das Medienverhalten mögen sich zwar unterscheiden. Medienkompetenz brauchen wir aber alle. Nur dann können wir die Neuen Medien für unsere Bedürfnisse sinnvoll nutzen, wissen um ihre Risiken und können Ungewolltes vermeiden. Klassische Medienkritik reicht da längst nicht mehr aus. Bereits heute und – angesichts der rasanten technologischen Entwicklungen – noch viel stärker in der Zukunft brauchen wir eine viel weiter gehende Medienkompetenz. «Wir müssen nicht nur wissen, wie die Neuen Medien funktionieren, wir müssen auch die Technik dahinter verstehen. Nur dann können wir wieder frei entscheiden, wie wir sie nutzen wollen», sagt Selina Ingold. Weil aber die Technik sehr komplex ist, kapitulierten viele Nutzer davor. Vieles, was im Hintergrund laufe, verstünden sie nicht und wollten es auch nicht verstehen. Trotzdem: In Zukunft werden wir mehr technisches Grundwissen benötigen, nur schon deswegen, weil unsere Welt immer technischer wird. 

Kinder können ihren Medienkonsum nicht reflektieren

Um digitale Medien sinnvoll zu nutzen, müssen wir unseren Medienkonsum reflektieren können.  Kinder beispielsweise nutzen die digitalen Medien intuitiv und kennen keine Hemmschwelle, Geräte auszuprobieren. So eignen sie sich den Umgang spielerisch an. Sie müssen erst noch lernen, wie die Medien funktionieren und ihre eigene Mediennutzung kritisch zu betrachten. «Aufgrund ihres Entwicklungsstandes können Kinder nicht selber einschätzen, was zu viel ist. Für sie ist die Versuchung grösser. Sie sind noch nicht zur Selbstkon­trolle fähig», sagt Selina Ingold. 

INSTAGRAM ALS VIRTUELLES IDENTITÄTSLABOR

Instagram, Snapchat, Musically und YouTube gehören für Jugendliche fest zu ihrem Lebensalltag. Dank ihres Smartphones sind sie ständig online und in Sozialen Netzwerken präsent. Was aber bedeutet es für sie, im digitalen Zeitalter aufzuwachsen? Was macht es mit ihnen, wenn sie ihre Beziehungen und ihre Identität vor allem über bildbasierte Soziale Netzwerke digital gestalten? Und: Was kann die Offene Jugendarbeit daraus ableiten? Diesen Fragen geht Fabienne Stöckli in ihrer Bachelor-Thesis «Identitätsbildung im digitalen Zeitalter – bildbasierte Soziale Netzwerke als Identitätslabor für Jugendliche?!» nach.

Seit jeher habe sich Identität in sozialen Interaktionen entwickelt. Im digitalen Zeitalter müssten mediale und visuelle Interaktion und Kommunikation aber mitberücksichtigt werden. «In der digitalisierten Lebenswelt von Digital Natives gehören vernetzte öffentliche Räume bzw. Soziale Netzwerke zu ihren wichtigsten Umgebungen», schreibt die Autorin. Jugendliche nutzten sie für ihre Selbstdarstellung und Selbstauseinandersetzung, sie gehörten daher zur aktiven Identitätsarbeit. Hier können die Jugendlichen «Facetten ihrer Identität nonverbal und visuell auf kreative Weise präsentieren und ausprobieren». Dank Feedback von ihren Peers machen sie Erfahrung mit sozialer Anerkennung und erleben Zugehörigkeit sowie kollektive Identität. «Bildbasierte Soziale Netzwerke können deshalb als ‹Identitäts­labor von Jugendlichen im digitalen Zeitalter› bezeichnet werden.» Das verlangt von ihnen aber Medien- und visuelle Kompetenzen. Sie müssen nicht nur Bilder aufnehmen, bearbeiten und versenden, sondern auch visuelle Botschaften entschlüsseln und gefälschte sowie manipulierte Bilder erkennen können. Für die Offene Jugendarbeit bedeutet das, dass sie den Jugendlichen einen bewussten und reflektierten Umgang mit Bildern im Internet vermitteln und sie über Risiken wie Cyberbullying, Sexting und Datenmissbrauch aufklären müsse. Nur dann könnten Jugendliche Instagram & Co. nach eigenen Bedürfnissen für ihre Identitätsbildung und ihre positive Selbstdarstellung im Internet kompetent nutzen. (sxa)

Stöckli, Fabienne. (2017). Identitätsbildung im digitalen Zeitalter – bildbasierte Soziale Netzwerke als Identitätslabor für Jugendliche?!. Unveröffentlichte Bachelorarbeit, FHS St.Gallen, Fachbereich Soziale Arbeit.

Als digital mündige Bürger können wir künftige Entwicklungen aktiv mitgestalten

Was passiert mit unseren Daten in einer globalen Welt?

Die Selbstkontrolle fällt auch so manchem Erwachsenen schwer. Sie mögen vielleicht kritischer mit den Neuen Medien umgehen und Informationsquellen infrage stellen. «Wie wir die Neuen Medien heute nutzen, ist aber oft nicht sinnvoll. Zum Beispiel, wenn wir immer sofort auf jede E-Mail oder Chatanfrage antworten, anstatt etwas konzentriert fertigzumachen. Auch die Erwartungshaltung, ständig erreichbar sein zu müssen, ist ein Stressfaktor.» Ein kompetenter Umgang bedeute, stets zu fragen, wo die Mediennutzung wirklich etwas bringt. 

Zwei Themen, die uns in Zukunft stärker beschäftigen werden, sind die Datensicherheit und der Datenschutz. Welche Daten wollen oder müssen wir gar in den digitalen ­Medien preis­geben? Und was geschieht mit ihnen? «Heute nutzen wir die digitalen Medien meist, ohne sie zu hinterfragen, da sie uns etliche Mühen im Alltag abnehmen», sagt Selina Ingold. Dabei werden aber vielfach Daten nach nicht nachvollziehbaren Kriterien gespeichert und vernetzt. Uns als Nutzerin, als Nutzer bleibt das weitgehend verborgen. «Ausgewertet von Algorithmen können sie aber dereinst auf uns zurückfallen, etwa dann, wenn wir eine Versicherung abschliessen oder einen Kredit aufnehmen wollen», sagt Selina Ingold. Ein bewusster Umgang mit den eigenen Daten sei nicht nur Sache der Nutzer. Gefordert seien auch die Tech-Unternehmen. «Von ihnen braucht es eine verantwortungsbewusstere Haltung und eine nutzerfreundlichere Umgangsweise mit diesem Thema. Das ist im Moment nicht der Fall, wie aktuelle Beispiele zeigen.»

Kreativität und kritisches ­Denken unterscheiden uns von ­Maschinen

Technisches Wissen, kritisches Hinterfragen, reflektierter Konsum, Datensensibilität – all dies soll letztlich zu einer digitalen Mündigkeit führen. «Mit dem Ziel, dass wir als digital mündige Bürgerinnen und Bürger die Medien nicht nur bewusst und vor allem verantwortungsbewusst nutzen, sondern künftige Entwicklungen auch aktiv mitgestalten können», sagt Selina Ingold. Dafür braucht es neben den bereits erwähnten Kompetenzen auch Fähigkeiten, die nicht automatisierbar sind, sogenannte «21st Century Skills». Dazu gehören unter anderem Kreativität oder die Fähigkeit zur Kooperation sowie zu kritischem und verantwortungsvollem Denken und Handeln. Heute könne man davon ausgehen, dass Medien- und Informatikkompetenzen zu den Grundkompetenzen oder Kulturtechniken der heutigen Gesellschaft gehörten, sagt Selina Ingold. «Wer digital mündig ist und Kreativität sowie die Fähigkeit zur Kollaboration mitbringt, der wird sich stets von den Möglichkeiten abheben, die Maschinen bieten.»