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Unternehmen können von Extrembeispielen lernen - Digitale Organisationen als Vorbilder

Dr. Petra Kugler 

Die digitale Zukunft kann die unternehmerische Realität grundlegend verändern. Viele vertraute Selbstverständlichkeiten und Verhal­tensmuster helfen etablierten Unternehmen dann nicht mehr weiter oder sie schaden ihnen sogar. Doch wie können sich Unternehmen darauf einstellen? Ein guter Weg ist es, von «extremen» digitalen Organisationen zu lernen, die völlig neu und anders funktionieren, wie zum Beispiel Open-Source-Software-Projekte. Denn was heute fremd erscheint, kann morgen schon normal sein.

Die digitale Reise

Wer bereits einmal in Japan (oder ­einem ähnlichen Land) war, der weiss, dass viele unserer selbstverständ­lichen Verhaltensweisen dort nicht oder ganz anders funktionieren. Japan folgt einer eigenen Logik, die wir erst begreifen müssen, um uns zurecht­zufinden. Der Rucksack an gelernten Erfahrungen, den wir aus dem eigenen Land und der eigenen Vergangenheit mitbringen, hilft uns dann nicht mehr weiter, wir stossen an die Grenzen des Bekannten. Vielmehr müssen wir das Vertraute und uns selbst hinterfragen und uns das Neue schrittweise aneignen. Das ist oft mühsam, aber auch spannend, und es kann sein, dass wir nicht alles mögen, was uns neu begegnet. 

Bekannte Pfade verlassen

Vielen Unternehmen geht es auf dem Weg in eine digitale Zukunft ähnlich. Denn schon jetzt zeigt sich, dass die digitale Welt ganz anders funktioniert als die analoge. Digitale Unternehmen definieren die Spielregeln im Wettbewerb und in der Zusammenarbeit neu. So gibt es beispielsweise keine «Economies of Scale» (Mengen­effekte) mehr, auch formelle Hierarchien oder Organisationsstrukturen fehlen häufig in solchen Organisationen. Oft ist das «Anderssein» sogar die Ursache für den herausragenden Erfolg digitaler Organisationen wie Uber oder Google. Damit sich Unternehmen in dieser Welt bewegen können, müssen sie also bekannte Pfade verlassen. 

Das «andere« begreifen

Aber wie erkennen wir, was der richtige Weg ist? Wie funktioniert das ­digitale Unternehmen der Zukunft? Wie müssen Unternehmen sein, um sich im digitalen Wettbewerb zu behaupten? Um Antworten auf diese Fragen zu finden, tendieren Unter­nehmen häufig dazu, das Vertraute, also das Bestehende, ­weiterzudenken und zu verstärken. Sie machen aus der «alten Perspektive» alles richtig und letztlich scheitern sie daran. Geht es um neue Technologien, dann sprechen wir häufig von «Disruption», also einer Veränderung der grundlegenden Erfolgslogik. Alte Rezepte greifen in der neuen Welt nicht mehr. Es braucht vielmehr neue Wege, neue Kompetenzen, neue Geschäfts­modelle, neue Denkweisen und neue Selbstverständlichkeiten. Das ist unbequem und unsicher – Eigenschaften, die Unternehmen meiden. Wie können sich Unternehmen darauf vorbereiten? Wie kann man das Unfassbare greifbar machen? 

Software-Projekte als Vorbilder

Eine Möglichkeit ist, «andere», aus heutiger Sicht noch oft als «ex­trem» empfundene digitale Organisationen ­genauer zu betrachten und zu analysieren. In der digitalen Welt sind Open-Source-Software-Entwicklungsprojekte ein solches Beispiel. Diese widersprechen der Funktionsweise ­eines «traditionellen» Unternehmens in vielerlei Hinsicht. Sie dürften vor diesem Hintergrund eigentlich gar nicht existieren oder zumindest nicht erfolgreich sein. Genau das Gegenteil ist aber in der digitalen Welt der Fall. Das gibt uns die ­Gelegenheit, zu lernen. 

In Open-Source-Software-Entwicklungsprojekten arbeiten Programmierer freiwillig an komplexen, inno­vativen und oft sehr erfolgreichen Softwareprojekten aller Art. Oft schliessen die Projekte «Markt­lücken», für die es keine kommerzielle Software gibt. Das Linux Betriebs­system oder der Apache Webserver sind prominente Beispiele dafür. 
Vieles ist jedoch anders als in traditionellen Unternehmen. So erfolgt die Zusammenarbeit ausschliesslich virtuell über eine digitale Plattform und ohne finanzielle Entlohnung der Teilnehmer. Häufig ist eine Beteiligung anonym, lediglich mithilfe eines «Nicknames» oder einer E-Mail-­Adresse ausgewiesen. Auch das gemeinsam entwickelte Software-Produkt steht allen kostenlos im Internet zur Verfügung. Was können Unternehmen von diesem Beispiel lernen?

Anerkennung als Lohn

Die wichtigste Botschaft ist: Digitale Organisationen brauchen Vieles nicht mehr, das wir für selbstverständlich halten. Dafür brauchen sie von anderen Dingen mehr. Unter anderem zeigt sich:

  1. Nicht nur Geld ist eine Währung: Obwohl die Teilnehmer an Open-Source-Projekten keinen Lohn erhalten, ist ihre Arbeit nicht «umsonst». In der digitalen Welt gelten (auch) andere Währungen wie Anerkennung, Wertschätzung, ein gutes Ergebnis, Lernen, oder sich einer Sache voll und ganz widmen zu können. Menschen möchten eben mehr als Geld. Diese Aspekte sind auch in Unternehmen wichtig.

  2. Nicht nur formelle Strukturen koordinieren Aktivitäten: Obwohl es keine formelle Hierarchie oder Organisation in Open-Source-Projekten gibt, sind diese keineswegs chaotisch. Vielmehr wird Stabilität durch eine starke Kultur der Entwickler-­Community, durch ein hohes Mass an Fach­wissen und durch das gemeinsam entwickelte Software-Produkt erzeugt. Nur wer ausreichend Kenntnisse auf diesen Gebieten mitbringt, kann sich an einem Projekt beteiligen. Das wirkt wie eine Auszeichnung und wie ein wichtiges Rekrutierungsinstrument. Auch Unternehmen kommen oft mit weniger Formalisierung aus.

  3. Nicht nur Vorgesetzte führen: Erstaunlicherweise funktioniert das alles weitgehend ohne Führung oder Führungskräfte. Denn wer lässt sich ohne Bezahlung Weisungen erteilen? Stattdessen wirken sozialer Druck und soziale Sanktionen in einem demokratischen System. Und letztlich gewinnt die bessere über die gute Lösung. Auch Unternehmen werden heute demokratischer.

Solche Projekte erscheinen uns heute noch fremd oder «seltsam». Dennoch lohnt es sich, sie genauer zu betrachten und ernst zu nehmen. Denn extreme Beispiele helfen uns, Charakteristika und Erfolgsfaktoren eines digitalen Unternehmens zu begreifen, auch wenn dies dann weniger ausgeprägt oder modifiziert umgesetzt wird. Individuen und Unternehmen müssen aber lernen, das Neue und oft Fremde nicht sofort abzulehnen. Wir laufen sonst Gefahr, dass das Bis­herige schnell zum Vergangenen wird.

Dr. Petra Kugler, Professorin am IFU an der FHS St.Gallen

Dr. Petra Kugler ist Professorin am Kompetenzzentrum für Strategie und Management des Instituts für Unternehmensführung. Sie beschäftigt sich mit innovativen Strategie- und Managementansätzen in einer sich kontinuierlich verändernden Umwelt.