Brennpunkt
«Oft ist nur das Trottoir öffentlicher Platz»
Nina Rudnicki
Ein biodiverser Bahnhof in Egnach und ein öffentlicher Platz in Muolen statt «Copy-Paste-Architektur»: Lineo Devecchi und Patrick Aeschlimann vom Ostschweizer Zentrum für Gemeinden an der Fachhochschule St.Gallen analysieren, wie Gemeinden ihre Lebens- und Wohnräume weiterentwickeln können.
Sie unterstützen Gemeinden, die ihr Gemeindeleben wieder aufblühen lassen möchten. Ein Ansatz ist, die Gemeinde als Wohnraum zu gestalten. Wie gelingt dies?
Patrick Aeschlimann: Wohnen ist ein Abbild unserer Gesellschaft. Die Frage ist also, wie wollen Leute heute wohnen? Darunter versteht jeder etwas anderes. Für die einen ist die Gemeinde dann ein attraktiver Wohnraum, wenn sie einen Autobahnanschluss hat. Andere verstehen unter Wohnraum viel Grünfläche oder die Nähe zu Wald und Natur. Dann gibt es Gemeinden mit, und Gemeinden ohne historischen Ortskern. Manche Leute wollen ein belebtes Zentrum, anderen ist dies schlicht nicht wichtig.
Braucht es einen Ortskern, damit eine Gemeinde zum Wohnraum werden kann?
Lineo Devecchi: Sagen wir es so: Das Dorfleben ist der zentrale Bestandteil eines Wohnraums. Und der Ortskern steht für das Dorfleben. Verschwinden Läden, Vereine, Cafés und andere Treffpunkte aus dem Zentrum, sterben auch die Ortskerne. Die Verödung der Ortskerne ist aktuell ein riesiges Thema in den Gemeinden. Hier hilft paradoxerweise die ungeliebte Verdichtungsdiskussion: Eine verdichtete Bauweise mit Raum für kleine Angebote wie Treffpunkte und Quartiercafés würde helfen, den Ortskern wiederzubeleben.
Gibt es Ostschweizer Gemeinden, denen es gelungen ist, den Ortskern wiederzubeleben und Wohnraum zu schaffen?
Aeschlimann: Ja, als Erstes fällt mir Muolen ein. Dort war auf dem Areal des ehemaligen Restaurants Rössli eine riesige Überbauung geplant. Vorgesehen waren ursprünglich 50 Wohnungen im Stil der sogenannten «Copy-Paste-Architektur», also gesichtslose Bauten, die überall stehen könnten. Das gefiel aber der Gemeinde nicht. Sie intervenierte und in der gemeinsamen Diskussion mit den Investoren wurden nun fünf Gebäude mit insgesamt 23 Wohnungen gebaut. Ausserdem wurde Rücksicht auf die Umgebung genommen: Die neuen Wohnhäuser passen gut ins Ortsbild und fallen nicht als Neubauten auf. Zudem gibt es im Erdgeschoss einen Bäcker samt Café. Wichtigstes Element ist aber der Rössliplatz, der als öffentlicher Raum für die Bevölkerung bestehen geblieben ist.
Devecchi: Das Beispiel Muolen zeigt, wie wichtig es ist, dass Gemeinden Wohnraum aktiv mitgestalten. Wichtiger Bestandteil solcher Prozesse ist, dass Gemeinden die Bevölkerung aktiv in die Planung miteinbeziehen.
Zusammenfassend lässt sich also sagen: Eine Gemeinde ist dann ein guter Wohnraum, wenn es alternative Wohnformen und öffentliche Plätze gibt und die Bevölkerung miteinbezogen wird?
Devecchi: Ja, das sind die Voraussetzungen. Wobei in vielen kleinen Gemeinden der öffentliche Platz nur das Trottoir ist. Dank der Miteinbeziehung ist Muolen mit dem Rössliplatz eine Alternative gelungen. Für kreative Lösungen braucht es die Ideen und das Engagement der Bevölkerung. Partizipationsprozesse bringen hierfür relevante Diskussionen in Gang.
Wie sollen Gemeinden mit ihren Bewohnerinnen und Bewohnern kommunizieren?
Aeschlimann: Die Kommunikation ist bei den Gemeinden derzeit ein grosses Thema. Es gibt immer weniger Lokaljournalistinnen und Lokaljournalisten, die über das Dorfleben berichten. Das bedeutet, dass die Bevölkerung immer weniger über ihre Gemeinde und die Themen erfährt, die anstehen. Da stellt sich die Frage, ob und auf welche Kanäle die Gemeinden setzen sollen. Die Digitalisierung eröffnet hier neue Chancen, ist aber eine Herausforderung.
Devecchi: Es geht aber nicht nur um die Kommunikation zwischen Gemeinde und Bevölkerung. Genauso wichtig ist es, die Kommunikation zwischen den Einwohnerinnen und Einwohnern zu fördern. Damit diese Kommunikation überhaupt stattfinden kann, muss Raum geschaffen werden, in dem sich die Bevölkerung begegnen kann.
Welchen Gemeinden ist es gelungen, die Bevölkerung einzubinden?
Devecchi: Ein spannendes Projekt ist «Egnach 2030». Im Sommer 2018 hat der Egnacher Gemeinderat eine Projektgruppe eingesetzt, die eine nachhaltige Strategie für die Gemeinde im Kontext des gesellschaftlichen Wandels, der Energie- und Klimafragen sowie der Nahversorgung und des Gewerbes entwickeln sollte. Organisiert wurde unter anderem ein Mitwirkungstag, an dem rund 150 Egnacherinnen und Egnacher mitmachten. Entstanden sind zahlreiche Ideen, etwa für einen biodiversen Bahnhof ohne Einheitshecken sowie mit einem guten Lebensraum für Tiere und Insekten.
Aeschlimann: Es stellt sich die Frage: Wäre der Gemeinderat in Klausursitzungen auf die Idee eines biodiversen Bahnhofs gekommen? Das Beispiel Egnach zeigt: Damit Kreatives entsteht, braucht es neue Perspektiven und vor allem partizipative Prozesse.
Soll dabei auch über die Gemeindegrenze hinaus gedacht werden?
Devecchi: Unbedingt. Einige Gemeinden werden es aufgrund verschiedener Gegebenheiten nie schaffen, ihren Ortskern zu beleben. Eine Möglichkeit ist daher, Themen regional anzugehen: Welche Gemeinden eignen sich zum Einkaufen? Wo könnte Kultur stattfinden? Das Klang- und Energietal Toggenburg hat es beispielsweise geschafft, der Bevölkerung über die Gemeindegrenze hinaus eine Identifikation zu geben.
Ist die Identifikation mit der eigenen Gemeinde als Wohnraum die Rettung der lokalen Demokratie?
Aeschlimann: Sie ist eine wichtige Voraussetzung. Die spannenden Prozesse finden meist vor der Gemeindeversammlung statt. Jede Diskussion trägt zum Erhalt der lokalen Demokratie bei. Insofern schaffen Begegnungsorte demokratische Orte.