Archivausgabe
Brennpunkt

Soziale Arbeit und Raumentwicklung

Madeleine Vetterli

Dass zwischen Mensch und Gebautem eine wechselseitige Wirkung besteht, ist unumstritten. Die Forderung zur gesellschaftlichen Beteiligung an der Planungspraxis ist daher auch nicht neu. Markus Kutter und Lucius Burckhardt kritisierten mit ihrem Werk «Wir selber bauen unsre Stadt» bereits 1953 die Übermacht der «Fachleute» in planerischen Prozessen. Akteurinnen und Akteure der Sozialen Arbeit und der Raumplanung sind im Jahr 2019 an Prozessen der Raumentwicklung beteiligt und nehmen dabei verschiedene Perspektiven und Positionen ein. Doch wer definiert diese, und wie werden sie in den jeweiligen Kontexten ausgefüllt?

Diese Fragen standen im Zentrum der vom Institut für Soziale Arbeit und Räume der FHS St.Gallen (IFSAR-FHS) und der Schweizerischen Gesellschaft für Soziale Arbeit (SGSA) durchgeführten Fachtagung vom 14. November 2019. Ausgangspunkt waren drei Geschichten zum Sozialraum, in denen Mitarbeitende des IFSAR-FHS von Forschungsprojekten und darin gemachten Beobachtungen zu Positionen, Perspektiven und Prozessen in der Raumentwicklung berichteten. Ziel war, die Beobachtungen mit Vertretenden aus Praxis, Forschung, Politik und Verwaltung zu beleuchten und neue Perspektiven zu diskutieren. Die Referierenden Brigit Wehrli-Schindler (selbstständige Beraterin in Quartier- und Stadtentwicklungsprozessen, Zürich), Angelus Eisinger (Direktor RZU Planungsdachverband Region Zürich und Umgebung), Sabina Ruff (Bereichsleiterin soziokulturelle und sozialraumorientierte Stadtentwicklung der Stadt Frauenfeld) sowie Christian Reutlinger (Co-Leiter des IFSAR-FHS) sind in ihren Arbeitskontexten an Schnittstellen von Sozialer Arbeit und Raumplanung tätig und berichteten vor diesem Hintergrund von ihren Erfahrungen. Parallel zu den Beiträgen wurden die zentralen Diskussionspunkte von Corinne Bromundt mittels «Graphic Recording» illustrativ festgehalten.

Einleitend führte Christian Reutlinger aus, dass Raumfragen von jeher im Dialog zwischen Disziplinen diskutiert werden. Dieser Dialog werde dabei meist unter dem Dach von Interdisziplinarität geführt, wobei offenbleibe, wie der Begriff genau verstanden werde. In Prozessen der Raumentwicklung sei daher neben konkreten Planungsfragen die Klärung von Interdisziplinaritäts- und Kooperationsverständnissen zentral.

Perspektiven

In Prozessen der Raumentwicklung treffen unterschiedliche Aufträge und Ziele von Sozialer Arbeit und Raumplanung aufeinander. Soziale Arbeit vertritt im Auftrag von Städten, Gemeinden, Kantonen oder privaten Stiftungen die Interessen ihrer Adressatenschaft, um sozialer Ungleichheit entgegenzuwirken und Teilhabe zu fördern. Raumplanung setzt auf der baulich-materiellen Ebene an und bearbeitet Themen wie Wohnraumschaffung, Verkehrslösungen oder die Belebung von Ortszentren. Die mitunter gegensätzlichen Perspektiven und unterschiedlichen fachlichen Selbstverständnisse erhöhen die Komplexität in Planungsprozessen. Gefordert sind, wie Ruff ausführt, ein Bewusstsein für Kernkompetenzen und Grenzen der eigenen Disziplin sowie Wissen über Eigenheiten, Logiken und Sprache der jeweils anderen Disziplin. Ebenso sind gemäss Eisinger nicht disziplinäre Unterschiede in den Mittelpunkt zu stellen, sondern konkrete Planungsvorhaben und die Frage danach, was es braucht, damit sich diese optimal entfalten. Insbesondere grosse Vorhaben sollten, wie Wehrli-Schindler ausführt, breit abgestützt werden.

Prozesse

Während sich Raumplanung lange Zeit mehrheitlich auf eine linear-ergebnisorientierte Planungslogik stützte, orientiert sich Soziale Arbeit, so Ruff, an einer zirkulären und ergebnisoffenen Logik. Ist z. B. ein Bauherr daran interessiert, ein Projekt plangemäss zu realisieren, wird durch sozialarbeiterisches Einwirken und bspw. die Forderung von Beteiligung die Komplexität der Vorhaben zunächst erhöht. Obschon der Umgang mit Beteiligungsprozessen eine Herausforderung darstellt, können gerade diese zu einem umfassenderen Blick führen, wie Wehrli-Schindler ausführt. Die Soziale Arbeit ist jedoch oft ungenügend oder zu spät in Planungsprozesse eingebunden, sodass Interventionen meist reaktiv erfolgen. Dies beschränkt den Handlungsspielraum und führt bspw. dazu, dass das Soziale nachträglich integriert werden soll. Um Einflussmöglichkeiten zu erhöhen, ist nicht nur die Soziale Arbeit gefordert, sich aktiv(er) in Planungsprozesse einzubringen, sondern auch Akteurinnen und Akteure der Raumplanung sind gefordert, soziale Aspekte durch strukturelle Einbettung zu fördern, etwa durch den Einbezug Sozialer Arbeit bereits in der Problemdefinition, die offen(er) angelegte Gestaltung von Planungsprozessen, interdisziplinäre Akteurszusammensetzungen in Projekten oder die frühzeitige Information aller Beteiligten.

Positionierungen

In Raumentwicklungsprozessen gibt es ungleich verteilte Macht- und Durchsetzungsverhältnisse. Dabei stellt sich für die Soziale Arbeit meist die Frage, wie sie sich vermehrt in diese Prozesse einbringen kann. Hierzu gibt es inder Sozialen Arbeit verschiedene Positionen: eine parteiliche Position, die sich aktiv einmischt und anwaltschaftlich Mitsprache einfordert, und eine intermediäre Position, die versucht, zwischen unterschiedlichen Interessen zu vermitteln. Es zeigt sich zudem, dass Sozialer Arbeit eher die Rolle der Konfliktlöserin zugesprochen wird und sie in Kooperationen dazu neigt, Positionen von anderen zu übernehmen (Kessl, 2019), wodurch sich die eigenen Einflussmöglichkeiten beschränken. Empowerment der Adressatenschaft sowie das Aneignen planerischer Grundkenntnisse, um in Planungsprozessen zu übersetzen, ohne dabei die disziplinäre Position zu kompromittieren, sind Ansatzpunkte, um die Position Sozialer Arbeit zu stärken. Aber auch Raumplanung ist gefordert, sich zu positionieren. Im Sinne einer nachhaltigen Raumplanung sind neben ökologischen und wirtschaftlichen Aspekten auch soziale Aspekte zu berücksichtigen und diese bspw. gegenüber Investoren zu vertreten. Es gilt, wie Eisinger auf den Punkt bringt, die Komplexität, die durch Interdisziplinarität entsteht, weniger zu beklagen oder zu problematisieren als sie vielmehr als selbstverständlichen Ausgangspunkt von Raumentwicklungsprozessen zu betrachten, um zu robusten und zukunftsfähigenLösungen zu kommen.

Die Tagung fand im Rahmen der Veranstaltungsreihe «Raum – Espace» der Schweizerischen Akademie der Geistes- und Sozialwissenschaften (SAGW) statt.