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Brennpunkt

Wie Kreativräume weite Kreise ziehen

Lea Müller

Für die Kreativität sind nicht nur einzelne Menschen zentral. Eine Schlüsselrolle spielt auch der Raum des kreativen Schaffens. Ein Forschungsprojekt der FHS St.Gallen  geht anhand des historischen Fallbeispiels der St.Galler Erker-Galerie der Frage nach, welche Faktoren zum Erfolg eines Kreativraums führen können – und wie sich Prozesse und Methoden auf aktuelle Projekte in der Ostschweiz übertragen lassen.

Fast unbemerkt von einer grossen Öffentlichkeit war St.Gallen in der Zeit zwischen 1958 und 2014 ein Anziehungsort für Künstlerinnen und Künstler sowie Autorinnen und Autoren von Weltruf. Ein Zentrum des kreativen Schaffens war das «Unternehmen Erker» mit seiner Galerie, der Presse und dem Verlag (siehe Kasten). «Das künstlerische Schaffen war enorm umfangreich. An diesem kleinen Ort sind neuartige Werke grossen Wertes entstanden», sagt Maria Nänny, Leiterin der Fachstelle Kunst an der FHS St.Gallen. Sie  ist zuständig für Werke, Druckgrafiken und bibliophile Bücher aus der Erker-Galerie, welche die FHS St.Gallen beherbergt. Die Kunstwerke sind als fester Bestandteil des Fachhochschulzentrums und in Form von Wechselausstellungen für die Öffentlichkeit zugänglich. Nun ist die Erker-Galerie als historisches Fallbeispiel für einen «Kreativraum» in den Fokus der Forschung gerückt. Ein interdisziplinär zusammengesetztes Team der FHS St.Gallen – mit Vertreterinnen und Vertretern der Fachstelle Kunst, des Instituts für Innovation, Design und Engineering sowie des Instituts für Soziale Arbeit und Räume – befasste sich mit den Erfolgsfaktoren des Erker-Unternehmens.

Zeitzeugen befragt, Hypothesen geprüft

Obwohl es sich um ein historisches Beispiel handelt, eignet es sich für den Übertrag auf moderne Unternehmen aus drei Gründen besonders gut: Die Erker-Galerie war erstens als  eine Art Netzwerkorganisation konstituiert, indem sich ein kleines Team  von St.Gallen aus mit herausragenden Denkerinnen und Denkern sowie  Kunstschaffenden vernetzte. Zweitens bot sie einen physischen Ort des Austausches. Drittens zeichnete sie sich durch ihren einmaligen Output aus.

Ausgehend von einer umfassenden Literaturrecherche und Zeitzeugen-Interviews  gingen die Forschenden den Hypothesen nach, dass bestimmte Faktoren einen Einfluss auf den kreativen Output eines Kreativraums haben und ein Kreativraum mit hohem Output wiederum eine positive Wirkung auf die Umgebung hat – wie etwa die Kreativitätskultur eines Unternehmens oder die Kreativwirtschaft einer ganzen Region.

Menschen, Strukturen und Materialität

Unter «Kreativraum» verstehen die Forschenden keinen physischen Raum mit vier Wänden, sondern einen Handlungsraum, der von den Menschen stetig hergestellt und neu definiert wird. «Die Kreativitätsforschung fokussiert sich meist auf die  Kreativität von Individuen. Das konkrete räumliche und soziale Setting hingegen, in welchem Kreative mit entsprechenden Methoden und Prozessen arbeiten, erhält noch wenig Beachtung», sagt Selina Ingold, Projektleiterin am Institut für Innovation, Design und Engineering. Genau in diesem Kreativraum, wo kreative Menschen aus unterschiedlichen Bereichen miteinander in Kontakt treten, sieht sie  ein grosses Innovationspotenzial.

«Wir gehen davon aus, dass der kreative Output und auch der ökonomische Erfolg eines Kreativraums von den drei Faktoren Mensch, Struktur und Materialität beeinflusst wird», führt Selina Ingold aus.  Zentrale Fragen sind etwa: Welche Infrastruktur ist notwendig,  um einen kreativen Prozess in Gang zu setzen? Welche Methoden und Prozesse werden angewendet? Welche Menschen treffen in diesem Kreativraum aufeinander?

Das räumliche Setting erhält in der Kreativitätsforschung noch wenig Beachtung.

Der Zeitgeist begünstigt die Erfolgsfaktoren

«Innerhalb eines Kreativraums ist die Vernetzung sehr wichtig», sagt Maria Nänny. Das zeige auch das historische Fallbeispiel Erker-Galerie eindrücklich auf. Die Galerie-Gründer  Franz Larese und Jürg Janett seien nicht nur mit den Kunstschaffenden und der Kundschaft in regem Austausch gestanden. «Sie haben es gewagt, ungewöhnliche Kooperationen einzufädeln, neue Wege zu gehen und über die Grenzen der Disziplinen hinauszuschauen.» Diese und weitere Faktoren führten dazu, dass der kreative Output der Erker-Galerie hoch war und dass das Unternehmen florierte.

Neue Kreativräume in der Ostschweiz

«Das Modell der Erker-Galerie lässt sich nicht eins zu eins auf heutige Kreativräume übertragen», sagt Selina Ingold. Als Ergebnis des Projekts ist jedoch ein Forschungsdesign entstanden, das es erlaubt, Modelle von Einfluss- und Erfolgsfaktoren von Kreativräumen zu entwickeln. Durch den Modellierungsprozess können Kreativräume weiterentwickelt werden. «Derzeit entstehen in der Ostschweiz viele neue Kreativräume wie zum Beispiel das Lattich Quartier in St.Gallen», sagt Selina Ingold. Hier kommen unterschiedliche Akteurinnen und Akteure der Kreativwirtschaft zusammen. Die Innovationsexperten der FHS St.Gallen möchten den Impact solcher neuer Kreativräume auf die Kreativwirtschaft in der Ostschweiz untersuchen – wenn möglich über einen längeren Zeitraum hinweg. Mögliche Projekte sind derzeit noch in einer Antragsphase.

Ein weiteres mögliches Anwendungsfeld der Forschungserkenntnisse ist die Auseinandersetzung mit der Galerienlandschaft. Viele Galerien kämpfen heute ums Überleben. Ihre Rolle hat sich in den letzten Jahrzehnten stark gewandelt, und die Bedeutung für den Kunstbetrieb wird zunehmend kleiner. «Das hat damit zu tun, dass der Wirkungskreis der Kunstschaffenden grösser geworden ist. Künstlerinnen und Künstler kennen sich heute mit wirtschaftlichen Fragen besser aus und können sich zunehmend selber vermarkten», sagt Maria Nänny. Das bedeutet auch, dass Kunstschaffende ihre Werke oft nicht mehr «auf Vorrat» produzieren und warten, bis ein Galerist oder eine Galeristin ins Atelier kommt. Viele  erstellen ihre Werke für ein bestimmtes Ausstellungsthema oder direkt für einen Auftraggeber.

«Es ist Zeit, unser Bild von Galerien zu überdenken», sagt Maria Nänny. Wie muss eine Galerie der Zukunft aufgestellt sein, damit sie Erfolg hat? Welche (neuen) Funktionen könnte sie annehmen? Wie könnten heutige Galerien von der Idee des Kreativraums profitieren? «Unsere Hypothese ist, dass eine heutige Galerie sich innovieren kann, indem sie sich für neue Tätigkeitsfelder öffnet», sagt Maria Nänny. Sie und Selina Ingold sind bereits im Gespräch mit Galeriebetreibern in der Ostschweiz, um dies weiterzudenken.

Weitere Informationen: www.fhsg.ch/kunst

MIT TÀPIES, IONESCU UND BILL ZUSAMMENGEARBEITET

Galerie mit dem angegliederten Verlag und der eigenen Presse. In den Jahren ihres Bestehens bis 2014 gingen aus diesem «Kreativraum» umfangreiche Werke von bekannten Künstlerinnen und Künstlern sowie Intellektuellen der Nachkriegsmoderne hervor. Vernissagen waren Dreh- und Angelpunkt für die intensive Vernetzung von Kunstschaffenden, Kunden und Galeristen.

Der Erfolg und das langjährige Bestehen des «Unternehmens Erker» seien im Kontext des Zeitgeistes zwischen 1960 und 2000 zu verstehen, als eine hohe Nachfrage nach Künstlerischem bestand, sagt Maria Nänny, Leiterin der Fachstelle Kunst an der FHS St.Gallen. Die Schaffenskraft und der ökonomische Erfolg der Erker-Galerie seien zudem in einem grossen Masse von den beiden Galeristen Franz Larese und Jürg Janett abhängig gewesen. Diese waren mit vielen Künstlerinnen und Künstlern freundschaftlich verbunden.

Max Bill, Hans Hartung, Eugène Ionesco, Antoni Tàpies, Serge Poliakoff oder ­Günther Uecker sind nur einige Namen von Künstlern, mit denen die Galeristen oft über Jahre eng zusammenarbeiteten.

In der Erker-Presse wurden unter anderem Lithografien gedruckt, der Erker-­Verlag gab bibliophile Bücher – etwa vom isländischen Schriftsteller ­Halldór ­Laxness – heraus. 1995 erhielten Franz Larese und Jürg Janett den Anerkennungspreis der Stadt St.Gallen für ihr Lebenswerk. Franz Larese verstarb im Jahr 2000 im Alter von 73 Jahren, Jürg Janett im Jahr 2016 im Alter von 89 Jahren. (mul)

«Die Galeristen haben es gewagt, ungewöhnliche Kooperationen einzufädeln und über die Grenzen der Disziplinen hinauszuschauen.»