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Brennpunkt

Von der «Wühlkiste» bis zum Szeneclub

Lea Müller

Leere Jugendzentren sind für die Offene Kinder- und Jugendarbeit in Gemeinden  oft ein Schreckgespenst. Dabei ist es ganz normal, dass die Jugendlichen irgendwann fernbleiben und sich ein Generationenwechsel vollzieht, sagen Forscherinnen der FHS St.Gallen. Entscheidend sei, dass Jugendliche sich ihre Räume immer wieder aufs Neue aneignen können.

Eine Baracke  in einem Industriequartier. Sie steht am Anfang der Erfolgsgeschichte eines Jugendzentrums in einer Schweizer Grossstadt. Skatende Jugendliche machen den Ort zu ihrem Treffpunkt. Die Jugendarbeiterinnen und Jugendarbeiter stellen sich auf die Skater ein und bauen gemeinsam mit ihnen ein Jugendzentrum auf. Das Zentrum ist belebt, wird von vielen Jugendlichen besucht, und es finden zahlreiche partizipative Projekte statt. Nach Jahren des Booms folgt die Flaute: Es kommen immer weniger Jugendliche ins Zentrum und die Offene Kinder- und Jugendarbeit sieht sich mit einem grundlegenden Nachwuchsproblem konfrontiert.

Viele Jugendzentren kennen diese Krise: Ein Angebot funktioniert gut, doch plötzlich kommen keine Jugendlichen mehr. Die offene Kinder- und Jugendarbeit gerät dann zunehmend unter Legitimationsdruck. 

Schweizweite Studie

«Das Konzept des Jugendtreffs wird in der Öffentlichkeit immer wieder angezweifelt», sagt Bettina ­Brüschweiler, die mit ihren Kolleginnen ­Ulrike ­Hüllemann und Johanna ­Brandstetter im Schwerpunkt «Aufwachsen und Bildung» des Instituts für Soziale Arbeit und Räume IFSAR-FHS forscht. Dabei sei die «vermeintliche» Krise  der plötzlich leeren Jugendhäuser eine ganz normale Entwicklung: «Jugendliche eignen sich Räume an und verbringen dort eine gewisse Zeit – bis diese die Bedeutung für sie verlieren und sie sich neuen Orten zuwenden.» Dann biete sich die Möglichkeit für eine neue Generation Jugendlicher, das Zentrum zu dem ihren zu machen. Der Generationenwechsel sei für viele Jugendzentren in der Schweiz eine Herausforderung, sagt Ulrike Hüllemann. «Im Kern stellt sich den Jugendarbeitenden die Frage, wie sie einen Ort schaffen und gestalten können, den sich die Jugendlichen immer wieder aufs Neue aneignen wollen.» Dazu hat das IFSAR-FHS von 2014 bis 2017 eine ethnografische Studie in der Offenen Kinder- und Jugendarbeit in der Schweiz durchgeführt.

Im Kern stellt sich die Frage, wie wir einen Ort schaffen und gestalten kön­nen, den sich Jugendliche aneignen wollen

Klare und unklare Räume

Sechs Fallbeispiele illustrieren unterschiedliche Varianten der Ortsgestaltung. Da ist zum Beispiel die «Wühlkiste», ein Treff, wo die Jugendarbeitenden bewusst keine konkreten Angebote für Jugendliche schaffen. Vielmehr stellen sie ein Sammelsurium an Gegenständen und Themen bereit. Die räumliche Gestaltung ist bewusst nicht eindeutig.

Im Gegensatz dazu zeichnet sich das «Dienstleistungszentrum» durch eine klare räumliche Gestaltung aus. ­Jedes Angebot ist örtlich und zeitlich genau definiert und damit für Jugendliche klar erkennbar. Das Ziel ist es, eine breite Angebotspalette für unterschiedliche Jugendliche zu bieten.

Im Beispiel «Szeneclub» hingegen ist der Jugendtreff auf eine spezifische Jugendkultur eingestellt. Jugendarbeitende bauen gemeinsam mit Jugend­lichen einen Ort auf – wie im Beispiel des Skaterzentrums.

Es gibt keine Rezepte

Ein Best-Practice-Konzept, das auf  andere Orte übertragen werden kann, gibt es aber nicht, wie Ulrike Hüllemann betont: «In Zukunft ist eine Flexibilität der Modelle gefragt, um auf die sich immer schneller wandelnden Jugendräume eine fachliche Antwort zu haben.» Es sei entscheidend, die eigene Situation vor Ort laufend zu analysieren und die Perspektive der Jugendlichen einzunehmen, ergänzt Bettina Brüschweiler. Welche Jugendlichen sind aktuell da? Wie nutzen sie die Angebote? Was machen sie mit den zur Verfügung stehenden räumlichen Elementen? Die Forscherinnen haben einen Katalog mit zentralen Fragen entwi­ckelt, der bereits in Workshops mit der Offenen Kinder- und Jugend­arbeit zum Einsatz kommt (siehe Kasten). Zudem arbeiten sie an einer Buchpublikation mit Entwicklungsimpulsen für die Jugendarbeit.

Eigene Geschichte finden

Die Erkenntnisse aus dem Forschungsprojekt zu Praktiken pädagogischer Ortsgestaltung in der offenen Kinder- und Jugendarbeit fliessen in konkrete Dienstleistungsprojekte ein. Zum Beispiel in Rapperswil-Jona, wo im Sommer 2020 ein grosser Umzug ansteht. «Nach über 20 Jahren in einer Baracke in einem Industrieareal brechen wir unsere Zelte ab und ziehen ins Zentrum», sagt Marion Lucas-­Hirtz, Leiterin der Kinder- und Jugendarbeit Rapperswil-Jona. Die Bürgerversammlung hat im vergangenen März einen Kredit von 2,9 Millionen Franken für ein neues Kinder- und Jugendzentrum gesprochen. Standort ist das Zeughausareal, das sich zwischen Rapperswil und Jona befindet. 

Marion Lucas-Hirtz und ihr Team freuen sich auf den Wechsel, denn sie sehen neue Chancen, ihre Angebote für mehr Jugendliche zugänglich zu machen. Derzeit erarbeiten sie das Konzept für das Kinder- und Jugendzentrum und werden in diesem Prozess von der FHS begleitet. Johanna Brandstetter und ihre Kolleginnen vom IFSAR-FHS führen mehrere Workshops durch, in welchen unter anderem auch die Fallbeispiele aus dem Forschungsprojekt besprochen werden. «Nun geht es darum, für Rapperswil-Jona eine eigene Geschichte zu finden», sagt Johanna Brandstetter. Vieles sei noch völlig offen, einiges – wie das übergeordnete Raumkonzept – schon vorgegeben, sagt Marion Lucas-Hirtz. Die Hoffnungen sind gross: «Wir wünschen uns, dass das Kinder- und Jugendzentrum zu einer Art Drehscheibe wird. Ein belebtes Haus, in dem Kinder und Jugendliche sich wohl fühlen und eine Ansprechperson für ihre Anliegen finden.» 

In einem weiteren Projekt in einer kleinen Ostschweizer Gemeinde begleitet das Team des Instituts für Soziale Arbeit und Räume ein ganz anderes Modell: Hier soll kein fixer Jugendtreff entstehen, sondern eine mobile aufsuchende Jugendarbeit. «Das Ziel ist, Räume nur im Rahmen von Projekten und für einen befristeten Zeitraum zu nutzen», sagt Johanna Brandstetter. Ein spannender Ansatz, der den sich laufend verändernden Jugendräumen Rechnung trage. Einer dieser beiden Formen den Vorzug zu geben, liegt der Forscherin aber fern: «Das Wichtigste ist, dass Jugendliche im Prozess mitgenommen werden und ihre Mitgestaltung dauerhaft möglich ist.» (mul)

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