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Brennpunkt

Raum entwerfen

Essay*

Die Frage nach dem, was ­einen Raum ausmacht, ist zugleich die Frage nach den Qualitäten eines Raums und nach den diesen Raum bildenden Elementen. Das gilt dabei sowohl für Innen- als auch für Aussenräume.

Wie wir den Raum wahrnehmen, hängt dabei zunächst von unseren ­Sinnen ab. Unsere Raumbeschreibungen bestehen oftmals aus ­einem Gemisch an visuellen ­Eindrücken, Klangbildern, Gerüchen. Wie nehmen wir das Licht wahr? Wie ist das Verhältnis von Raum und den in ihm befindlichen Objekten? All diese Aspekte stehen in einem direkten Zusammenhang und bedingen sich ­gegenseitig.

Raum sehen, hören, begreifen

Wir bewegen uns mit unserem Körper durch den Raum und können ihn so erfassen. Wir sehen die umgebenden Häuser eines Platzes, wir riechen, ob es einen Bäcker gibt, hören den Brunnen plätschern. In Innenräumen nehmen wir deren Grösse wahr. Wir ­sehen, wie die Fenster sitzen, wohin wir durch sie blicken, ob die Sonne in den Raum scheint oder nicht. Wir nehmen wahr, ob es hell ist oder dunkel, ob Oberflächen verputzt oder mit Holz verkleidet sind, auf welchem Boden wir gehen. All dies führt zu einem Gesamteindruck und damit zu unserer Beurteilung des Raums.

Gibt es Kriterien, die für jeden Raum gelten, wie etwa eine gute Proportionierung, so ist seine Beurteilung auch abhängig vom jeweiligen Ort, der Situa­tion, in der wir uns befinden: Sind wir bei der Arbeit, zu Hause, in der Stadt, auf dem Land? Gleichzeitig spielen kulturelle, klimatische, wirtschaftliche und technische Parameter eine Rolle. Müssen Plätze und Räume vor Hitze und Sonne geschützt werden, oder will man Sonne und Wärme gerade auf den Platz, in den Raum ein­lassen? Sind Holz- oder Steinbauten typisch für eine Region, einen Ort, eine Stadt?

Raum bilden

Es ist die Aufgabe der Architektur, Raum zu bilden. Architektur schafft eine Grenze zwischen aussen und innen, so entsteht ein Innenraum und ein Aussenraum. In der Architektur gestalten wir die Körper und Flächen, die den Raum begrenzen. Wir setzen sie zueinander in Beziehung, um einen Ort zu schaffen. Wir arbeiten an der jeweiligen räumlichen Situation.

Um zu erläutern, was einen guten Raum ausmachen kann und welcher Zutaten es dafür bedarf, gehen wir im Folgenden zuerst auf den städtischen Platz und danach auf den Innenraum näher ein.

Der städtische Platz

Platzräume dienen in der Stadt der Begegnung, dem Austausch, dem Aufenthalt und dem Tätigwerden von Menschen. Sie haben Funktionen, wie zum Beispiel als Markt- oder Kirchplatz. Die Wände der Plätze bilden die Fassaden der angrenzenden Bauten. Mit ihrer Ausgestaltung prägen sie den Charakter des Platzes. Sind es offi­zielle Bauten oder Wohnbauten, die den Platz rahmen; handelt es sich also um einen privaten Platzraum oder einen öffentlichen? Materialien wie Stein vermitteln in unseren Breiten einen offiziellen Charakter, während wir Holzfassaden eher Wohnbauten zuordnen würden. Ob wir den Platz erfassen können, hängt dabei von seiner ­­Grös​se und Bebauung ab. Elemente wie Brunnen können eine Zonierung vorgeben, Möblierungen wie Bänke können gewisse Bereiche für gewisse Nutzungen definieren.

Gerade bei kleineren Plätzen wie dem Bärenplatz in der St.Galler Innenstadt ist der Platzraum gut erfahrbar. Die umgebenden Geschäftsbauten mit ihren als Ladenzonen ausgestalteten Erdgeschossen rahmen den Platz und weisen ihn als städtischen Raum aus. Der grosse, lang gezogene Raum des Bahnhofplatzes ist durch seine Funktion als Busbahnhof vom Verkehr bestimmt, die Haltestellen verbauen die Sicht auf den Platz und die umgebenden Fassaden. Der Raum ist in der Folge nicht mehr wahrnehmbar.

Einen ganz anderen Platz bildet wiederum der Klosterhof. Mit seiner parkähnlichen Anlage ist er offizielle Platzanlage im Stiftsbezirk. Die Platzwände werden gebildet aus den weiss verputzten Fassaden der barocken Klosteranlage und erzählen von ihrer tausendjährigen Kulturgeschichte. Für die imposante steinerne Eingangsfront der Kathedrale wird der Klosterhof gleichsam zum Bühnenbild. Der Klosterhof zeigt, dass sich die Platzgestaltung in der Ausformulierung der einzelnen Fassaden, der Platzstruktur, den Oberflächen widerspiegelt. Zugleich spielt die Funktion des Platzes eine wesentliche Rolle.

Der Innenraum

Einen Innenraum bestimmen Proportionen und dessen Oberflächen ebenso wie den Stadtraum. Auch bei ihm ist die Funktion entscheidend für seine Ausgestaltung. Je nach Grös​se spielt seine Zonierung, die Lichtführung, die Anordnung von Möbeln und Elementen im Raum eine entscheidende Rolle. Ebenso seine Nutzung: Dient der Raum der Begegnung oder dem Rückzug, ist es ein Arbeitsort oder ein Wohnraum?

Repräsentative Räume, wie etwa das Foyer eines Theaters oder ein Kirchenraum, haben die Aufgabe, die Funktion des Gebäudes zu vermitteln. Sie dienen wie Platzräume der Begegnung, dem Austausch. Dabei ist im Innenraum bei der Wahl der Materialien eine grössere Varianz möglich, da die gewählten Oberflächen nicht der Witterung, dem Regen oder Wind, standhalten müssen.

So kann ein Raum mit Stoff ausgekleidet sein; seine gemauerten Wände können verputzt oder roh belassen werden. Mit dem Entscheid für die Oberfläche verändern sich der Eindruck und die Eigenschaften des Raums. All dies kann zu seiner Inszenierung genutzt werden. Dabei sollte der Entscheid für oder gegen den Einsatz eines Materials immer in Bezug zum Bauwerk selbst stehen. Wie ist es gebaut, warum kommen welche Materialien zum Einsatz?

Auch die Lage des Gebäudes spielt eine Rolle. Steht es in der Stadt, auf dem Land, am Wasser? Bei einem städtischen Wohnhaus in der St.Galler Innenstadt beispielsweise kommen andere Materialien zum Einsatz als bei einem Wohnhaus, das am Bodensee steht. Wasser assoziieren wir mit Holz. Das Bild, barfüssig auf einen hölzernen Balkon zu treten, gehört zunächst an den See.

All diese Fragen beeinflussen die Gestaltung des Raums. Es geht also weniger um den guten, als den für seine Funktion und seinen Zweck angemessenen, strukturell und räumlich, in Material und damit in seinem Ausdruck gut entworfenen Raum.

Dies ist die Aufgabe der Architektur. Sie manifestiert sich im einzelnen Raum, im Gebäude, in einem Gebäude­komplex, in einer Siedlungsstruktur oder auch in einer ganzen Stadtanlage.

*Andrea Wiegelmann

Andrea Wiegelmann ist Architektin, Publizistin und Verlegerin. Seit 2018 ist sie in der ArchitekturWerkstatt St.Gallen für die internen Publikationen zuständig. Zu ihren Themenschwerpunkten gehören Fragen des Städtebaus und der Raumplanung, Typologien mit Schwerpunkt Wohnbau sowie Materialentwicklungen und ihre Auswirkungen auf Architektur und Konstruktion.