Brennpunkt
Zeit für Raum: über die Grenzen von Mauern
Wir reden so oft über Räume wie noch selten. Derzeit scheint alles Raum zu sein, zu brauchen und zu haben. Raum schafft Platz und grenzt gleichzeitig ab. Aber was genau meinen wir, wenn wir «Raum» sagen? Und wie hat sich unser Verständnis dessen über die Jahre verändert? Ein Gespräch mit Christian Reutlinger, Leiter des Instituts für Soziale Arbeit und Räume, über ein neues altes Phänomen.
Herr Reutlinger, in welchen Räumen halten Sie sich am liebsten auf?
Christian Reutlinger: In Räumen, in denen ich meine Bedürfnisse situativ leben kann: Möchte ich Menschen treffen, sollten die Räume anders beschaffen sein, als wenn ich in Ruhe ein gutes Buch lese oder einen Text schreibe. Generell fühle ich mich in gestaltbaren, individualisierbaren und flexiblen Räumen am wohlsten.
Also macht Gestaltbarkeit einen guten Raum aus?
Reutlinger: An allgemeingültige Kriterien für die Bewertung eines Raums glaube ich nicht. Dafür sind die Sichtweisen und Bedürfnisse der Menschen zu vielfältig. Ausserdem müssten wir zuerst klären, was genau wir meinen, wenn wir «Raum» sagen.
Dann frage ich Sie: Wie definieren Sie «Raum»?
Reutlinger: Meines Erachtens gibt es keine Definition mit Gültigkeitsanspruch, sondern vielmehr unterschiedliche Antworten auf vielfältige raumrelevante Fragen. Derzeit wird so oft über Räume geredet wie noch selten. Entfaltungsräume, Möglichkeitsräume, Beteiligungsräume, Integrationsräume, Kinder- und Altersräume, Sozialräume, öffentliche Räume – Raumbegriffe sind allgegenwärtig. In der Alltagssprache scheinen soziale und politische Phänomene, die sich wandeln, mit «Räumen» beschreibbar zu werden. Um den Überblick nicht zu verlieren und alles zum Raum werden zu lassen, ist es also wichtig, zu sagen, was wir mit dem Begriff eigentlich meinen. Als Sozialgeograf finde ich dieses «Räumeln im Alltag», die Omnipräsenz des Raumes, insofern hoch spannend, als dass ich das Thema längst überwunden glaubte.
Was meinen Sie konkret mit der Überwindung des Raums?
Reutlinger: Der Abbau von Grenzen und die damit verbundene Abkehr eines Denkens in kleinen Einheiten erreichte mit dem Ende des Kalten Kriegs in den 1990er-Jahren seinen Höhepunkt. Technologische und soziale Errungenschaften ermöglichten den Menschen, sich im gleichen Raum zu bewegen, ohne am selben Ort zu sein, mit Menschen zu kommunizieren, ohne sich gegenüberzustehen. Die vormals enge Verschränkung von Räumen mit bestimmten, auf dem Globus durch geografische Länge und Breite festgelegten Orten, wurde aufgelöst oder «entankert», wie es in der Fachsprache heisst.
Leben wir also in einer «entankerten» Welt, in der sich die Räume aufgelöst haben?
Reutlinger: Nein. Parallel zu entankernden Prozessen, angetrieben durch Globalisierung und Digitalisierung, steigt angesichts der erhöhten Komplexität unserer Welt das Bedürfnis der Menschen, im Alltag wieder Übersicht, Ordnung und Sicherheit zu erlangen. Zeichen hierfür sind beispielsweise der wahrnehmbare Gegentrend zum Grenzabbau, neue Regionalismen und das Erstarken des Lokalen.
Wo genau stellen Sie diese Gegentrends fest?
Reutlinger: Im politischen Diskurs erlangen physische Grenzen eine neuerliche Wertigkeit. Selten wurden so viele Mauern und Grenzzäune gebaut wie heute. Weltweit. Damit stellen sich wieder Fragen nach Zugehörigkeit. Danach, wer oder was «wir» sind und wer oder was «die anderen». Mit dem Hochziehen einer Mauer werden diese sozialen Fragen in eine bestimmte Richtung, mit einem Sich-Abgrenzen und Sich-Abschotten, beantwortet. Man sehnt sich nach abgeschlossenen, sicheren Einheiten. Dieses Denken hinterlegt ein Verständnis von Räumen als überschaubare dreidimensionale Kammern. Das lässt sich auch in anderen Gesellschaftsbereichen, bei denen es um das Zusammenleben geht, beobachten. Das gute kleinräumige Soziale, wie zum Beispiel die Nachbarschaft, das Quartier, werden als Allheilmittel für alle möglichen Dinge gesehen: Vereinsamte alte Menschen, unbeaufsichtigte Kinder oder sich zu integrierende Menschen mit Fluchterfahrung – für sie alle soll der Nahraum eine Antwort bieten.
Die Komplexität heutiger sozialer Herausforderungen lässt sich kaum mit dem Rückzug ins Lokale lösen.
Sie scheinen skeptisch.
Reutlinger: Obwohl ich das Bedürfnis nach Übersicht nachvollziehen kann, ist das Bild des guten Nahraums für mich zu sozialromantisch. Das dahinter liegende Raumverständnis kommt an seine Grenzen, wenn man betrachtet, unter welchen globalen und digitalen Einflüssen wir heute leben und wie fliessend die Prozesse sind. Eine sozial-integrative Gesellschaft, die allen Menschen Zugänge zu verschiedenen Ebenen ermöglicht, ist meines Erachtens weit mehr als eine Aneinanderreihung von einzelnen Raumkammern. Deshalb warne ich vor zu einfachem Denken. Die Komplexität heutiger sozialer Herausforderungen lässt sich kaum mit dem Rückzug ins Lokale lösen.
Welche alternativen Lösungen schlagen Sie vor?
Reutlinger: Man sollte die Menschen unterstützen, indem man ihnen Denk- und Handlungsalternativen anbietet, sowohl für den Alltag als auch im professionellen Handeln. Das versuchen wir als Institut für Soziale Arbeit und Räume IFSAR-FHS, indem wir die Grundlagen dafür schaffen, die Welt nicht bipolar in Gut und Böse, Innen oder Aussen zu denken, sondern den dazwischen liegenden Graubereich bewältigbar zu machen.
Wie gelingt das?
Reutlinger: Es braucht die Offenheit, Unterschiede überhaupt zuzulassen und unterschiedliche Optionen auch situativ auszuhandeln. Als Sozialwissenschaftlerinnen und -wissenschaftler haben wir die Aufgabe, die Menschen dabei zu unterstützen, einander besser zu verstehen. Wir müssen dazu viel nachfragen, aber auch zwischen Formulierungen und Vorstellungen übersetzen. Gerade wenn wir von Räumen sprechen. Unterstützend sind hierfür konzeptionelle Denkmodelle. Wir am IFSAR-FHS arbeiten seit mehr als zehn Jahren mit dem «St.Galler Modell» zur Gestaltung des Sozialraums. Dieses hat sich gut etabliert und zeigt auf, dass es unterschiedliche professionelle Gestaltungszugänge zu Sozialen Räumen gibt, nämlich über die Struktur, über Orte und über Menschen. Durch das Handeln und Miteinander unterschiedlichster Akteurinnen und Akteure entstehen Räume erst und beeinflussen wiederum zukünftiges Handeln.
Wo und wie wenden Sie das Modell an?
Reutlinger: Die Denkfigur unterstützt uns, gemeinsam im Gespräch mit Auftraggebenden, mit Kolleginnen und Kollegen anderer Disziplinen und mit Studierenden herauszufinden, wie das Gegenüber die Zusammenhänge von Strukturen, Orten und Menschen versteht und letztlich, wie er oder sie den Raum denkt und ihn professionell zu gestalten versucht. Durch die Denkfigur wird dieser Austausch möglich, unterschiedliche Zugänge werden sichtbar, was gerade für eine interdisziplinäre Fachhochschule wie die FHS St.Gallen essenziell ist.
Und bei Ihnen im Institut steht der Mensch im Zentrum?
Reutlinger: Uns als IFSAR-FHS zeichnet das Wissen darüber aus, wie Menschen durch ihre Handlungen alltäglich Räume herstellen und reproduzieren – wie sie bei der Aneignung und Gestaltung von Welt professionell unterstützt werden können, mit dem Ziel, in belastenden Situationen handlungsfähig zu bleiben.
Kommt daher auch die Umbenennung des Instituts, das vor einem Jahr noch IFSA «Institut für Soziale Arbeit» hiess? Das R für Räume kam dieses Jahr dazu.
Reutlinger: Das zusätzliche R für Räume trägt dem beschriebenen Schwerpunkt Rechnung. Das geriet mit dem IFSA zu wenig in den Blick. Mit dem Zusatz «Räume» wollten wir hervorheben, dass wir einen Spezialblick haben, einen sozialräumlichen Blick auf aktuelle soziale Fragestellungen. Quer zu unseren vier Schwerpunkten «Wohnen und Nachbarschaften», «Öffentliches Leben und Teilhabe», «Aufwachsen und Bildung» sowie «Integration und Arbeit».
Wohin wird sich das Thema Raum weiterentwickeln? Welche Vorstellung haben Sie vom Raum der Zukunft?
Reutlinger: Ein Menschenleben-Horizont war früher stark an einen Ort und eine lokale Gemeinschaft gebunden. Man lebte, wo man geboren worden war und starb, wo man gelebt hatte. Zwischenzeitlich sind längst sowohl physische als auch soziale Mobilität Usus. Nach der Euphorie der 1990er-Jahre, in denen das Bild eines individuell gestaltbaren Lebens jenseits von hinderlichen Grenzen dominierte, scheint heute durch die beschriebenen Veränderungen das Schliessen und Rückbinden auf das Lokale auf dem Siegeszug. Das finde ich zu kurz gedacht, da Handlungsmöglichkeiten eingeschränkt und Menschen ihrer Möglichkeiten beraubt werden. Darüber kann man sich aber selbstverständlich streiten. Soll man vielleicht sogar; Aushandlungsprozesse sind in einer Gesellschaft unabdingbar. Wenn jede und jeder für sich ihr oder sein eigenes kleines Inselchen schafft, geht das vielleicht isoliert für sich, für eine gut funktionierende Gesellschaft ist das jedoch zu wenig.