Essay Dr. Christa Uehlinger
Eine asiatische Austauschstudentin antwortet auf Fragen im Unterricht kaum. In der Prüfung schreibt sie lediglich ein, zwei Sätze pro Aufgabe und fällt durch. Der Dozent hat schon länger den Eindruck, dass asiatische Studierende kaum etwas können. In der multikulturellen Projektarbeit ärgern sich die Schweizer Studierenden mehr und mehr, weil sich ihre Teamkolleginnen und -kollegen aus Spanien kaum an Termine und vereinbarte Zeiten halten. Kommen Ihnen solche Situationen bekannt vor?
Was ist geschehen? Die Antwort ist überraschend einfach und gleichzeitig komplex. Einfach, weil verschiedene Menschen mit unterschiedlichen kulturellen Prägungen aufeinandertreffen und sich alle «so wie immer» verhalten. Komplex, weil Kultur vielschichtig und kaum fassbar ist, uns jedoch massgeblich beeinflusst.
Gehen wir der Sache auf den Grund und betrachten wir zunächst Kultur und ihre Auswirkung auf eine Interaktion genauer. Kultur umfasst Werte, Glaubenssätze und Grundannahmen einer Gruppe von Menschen, zum Beispiel einer Nation, einer Religion oder einer Altersgruppe. Diese beeinflussen unser Verhalten, unsere Wahrnehmung, unsere Kommunikation und unsere Denkweise. Das gilt für alle Menschen dieser Erde, nur eben je nach Sozialisierung anders. Kultur vermittelt Bedeutung, gibt Sicherheit und Orientierung. Sie definiert unsere Komfortzone, innerhalb derer wir gemäss unserer Normalvorstellung handeln. Alles, was ausserhalb dieser Komfortzone liegt, wird als «fremd» und eher störend wahrgenommen.
Jeder Mensch ist kulturell geprägt und bringt seine Art und Weise in eine Interaktion mit ein. Unbewusst wird angenommen, dass der andere gleich tickt. Das trifft aber in interkulturellen Situationen nicht zu. Daher kommt es meist zu Missverständnissen. Arbeiten wir mit kulturell anders geprägten Personen zusammen, sind wir in unserer Komfortzone gefordert.
In den genannten Beispielen agieren alle aus ihrer eigenen kulturellen Prägung heraus, obwohl sie sich in einer kulturellen Überschneidungssituation befinden. Das ist menschlich. Für die asiatische Austauschstudentin ist es herausfordernd, direkt angesprochen zu werden. Um sich auszudrücken, braucht sie weniger Worte und zieht den Kontext mit ein. Der Dozent hingegen ist es gewohnt, dass Antworten begründet werden. Er verlässt sich auf das Wort. Daher nimmt er wahr, dass asiatische Studierende weniger können würden. Für die Schweizer Studierenden ist Pünktlichkeit wesentlich. Stossen sie auf ein anderes Zeitverständnis, beginnen sie sich zu ärgern. In Spanien aber wird mit Zeit flexibler umgegangen.
Was diese Personen erleben, passiert tagtäglich überall auf dieser Welt und in allen Tätgikeitsgebieten. Wir leben in einer multikulturellen interdependenten, globalen und zunehmend digitalisierten Welt, in der Menschen unterschiedlicher kultureller Prägung miteinander im Austausch sind. Interkulturalität ist nicht mehr das Besondere, sondern der Normalfall.
Obwohl Interkulturalität an Beachtung gewonnen hat, ist die bewusste Beschäftigung damit noch keine Selbstverständlichkeit. Wer jedoch im beschriebenen Umfeld kulturübergreifend wirksam arbeiten möchte, benötigt interkulturelle Kompetenz. Sie ist die Basis für das effektive und angemessene Handeln, wenn sich kulturell unterschiedliche Menschen zielführend begegnen wollen.
Der Ruf nach interkultureller Kompetenz ist überall zu hören. Unbestritten ist, dass diese Fähigkeit in der heutigen globalen Welt eine unabdingbare Schlüsselkompetenz darstellt. Was interkulturelle Kompetenz jedoch genau umfasst, darüber bestehen verschiedene Auffassungen. Ein erster Grundkonsens hat sich in den USA entwickelt. Danach besteht interkulturelle Kompetenz aus kognitiven, affektiven und verhaltensorientierten Fähigkeiten und Eigenschaften. Diese unterstützen eine wirksame, kulturübergreifende Interaktion und stehen in einem wechselseitigen Verhältnis zueinander.
Interkulturelle Kompetenz lässt sich also kurz umschreiben als die Fähigkeit, mit Menschen anderer kultureller Prägungen wertschätzend, achtsam und reflektiert interagieren und kommunizieren zu können. Das bezieht die persönliche Einstellung mit ein, das heisst, dem anderen offen, neugierig und mit positiver Absicht zu begegnen. Dazu gehört aber auch das eigene Verhalten, in dem man sich auf den anderen respektvoll, wertschätzend und empathisch einlässt, was Fähigkeiten wie aktiv zuhören, beobachten und präsent sein erfordert. Schliesslich braucht es auch das Wissen über die eigene Kultur, aber auch Kenntnisse anderer Kulturen und Lebensweisen.
Das ist nichts Naturgegebenes. Interkulturelle Kompetenz erfordert ein geschärftes Bewusstsein der eigenen Kultur, die Fähigkeit, das Andere wahrzunehmen, sowie den Willen, die eigenen Verhaltensweisen und interkulturellen Erfahrungen zu reflektieren. Das bedingt, die eigene kulturelle Komfortzone zu erweitern und mit Unsicherheit umzugehen. Blosses Wissen, das Erlernen einer Sprache oder internationale Erfahrungen alleine genügen daher nicht. Sie können die Entwicklung interkultureller Kompetenz fördern, führen aber nicht zwangsläufig dazu, interkulturell kompetent zu sein.
Die Aneignung interkultureller Kompetenz geschieht nicht von heute auf morgen, sondern ist ein lebenslanger Lernprozess, der je nach Erfahrungen auch mal durch Rückschritte gekennzeichnet sein kann.
Wären also die asiatische Studentin, der Dozent, die Schweizer sowie die spanischen Studierenden in ihrer interkulturellen Kompetenz gestärkt und wären sie bewusster mit diesen Situationen umgegangen, hätten Missverständnisse vermieden und fruchtbarere Formen der Zusammenarbeit gefunden werden können.
Braucht man demnach interkulturelle Kompetenz? Absolut, überall und je länger, je mehr.