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Getroffen im «Gleis 8»

«Es gibt keine Formel für ein moralisch gutes Leben»

Marion Loher/Lea Müller

Mit den Klimastreiks sind Fragen rund um ein nach­haltiges Leben stark in den Mittelpunkt gerückt. Im Inter­view spricht Mathias Lindenau, Leiter des Zentrums für Ethik und Nachhaltigkeit ZEN-FHS, über die Nachhaltigkeit solcher Bewe­gungen, die Diskussionsmüdigkeit der Menschen und die künftigen ­ethischen Herausforderungen.

Herr Lindenau, was bedeutet es, nachhaltig zu leben?

Mathias Lindenau: Das kommt darauf an, wie man Nachhaltigkeit definiert. Wenn beispielsweise in der Wirtschaft von nachhaltiger Unternehmensführung die Rede ist, meint man eher den langfristigen Unternehmenserfolg. In der Ethik hingegen bedeutet nachhaltige Entwicklung die Suche nach Leitbildern einer anzustrebenden Lebensform und Gesellschaftsordnung, von denen wiederum auch unser individueller und kollektiver Umgang mit der Natur abhängt. Das wieder­um bedeutet erstens ein Problem­bewusstsein für die Konflikte und Herausforderungen zu entwickeln, die diskutiert werden müssen. Und zweitens zu reflektieren, was daraus für jeden Einzelnen und für die Gesellschaft resultiert. Denn selbstverständlich müssen den Worten auch Taten folgen. Hier stellen sich Fragen nach der Selbstbescheidung des Menschen: Unter welchen Umständen wäre ich denn bereit, auf etwas zu verzichten? Würde ich es freiwillig tun oder nur unter Zwang? Nur wenn alle darauf verzichten oder wäre ich auch bereit, den ersten Schritt zu machen?

Wie sensibilisiert sind die Menschen auf ethische Fragen?

Lindenau: Pauschal lässt sich diese Frage nicht beantworten. Generell scheint es von der persönlichen Betroffenheit abzuhängen, inwieweit sich jemand für ein Thema interessiert oder nicht. Aber gerade die aktuelle FridayForFuture-Bewegung ist ein gutes Beispiel dafür, wie ethische Themen plötzlich für alle relevant werden können. Denn diese Bewegung zwingt uns alle dazu, über den Klimawandel nachzudenken. Ältere Menschen können eher damit rechnen, relativ unbeschadet da rauszukommen. Die nachfolgenden Generationen hingegen können das nicht, zumindest sprechen die wissenschaftlichen Ergebnisse eine eindeutige Sprache. Die Jungen sind für dieses Thema sensibilisierter, dem gegenüber sich aber auch die älteren Generationen irgendwie verhalten müssen.

Gibt es ein moralisch gutes Leben?

Lindenau: In der Ethik gibt es dazu höchst unterschiedliche Auffassungen. Auch hier ist wieder die Frage, was man unter einem moralisch guten Leben verstehen will. Wenn darunter der autonome Lebensentwurf eines Menschen verstanden wird, dann glaube ich nicht, dass es eine allgemeingültige moralische Formel für ein gutes respektive gelungenes Leben gibt.

Weil das von Person zu Person unterschiedlich ist?

Lindenau: Genau, unsere Lebensentwürfe sind höchst unterschiedlich und das gilt es zunächst einmal zu respektieren. Wir müssen in unserem individuellen Entwurf aber auch die legitimen Interessen und Rechte anderer Menschen berücksichtigen und uns fragen, was wir ihnen als Menschen schulden. Und dann wird schnell offensichtlich, dass ein gelungenes Leben eben auch von den gesellschaftlichen Rahmenbedingungen abhängig ist. Wer es anstrebt, kann sich aus einer ethischen Sicht deshalb nicht der Forderung entziehen, sich moralisch anständig zu verhalten. Simpel, aber sehr hilfreich wäre es, sich in Bezug auf solche Fragen einfach einmal in die Lage des jeweils anderen zu versetzen. Wie wollen wir mit Schwächeren in unserer Gesellschaft umgehen? Wie mit denen, die erfolgreich und stark sind? Wozu wollen wir sie verpflichten und wozu verpflichten wir uns in Bezug auf das Gemeinwohl?

Fragen über Fragen.

Lindenau: Oft wird über den Umgang mit solchen Herausforderungen gar nicht mehr gerungen. Entweder, weil wir das Gefühl haben, diese Fragen sowieso nicht lösen zu können, oder wir betrachten sie mit einem ideologischen Tunnelblick. Unsere Probleme sind aber derart komplex, dass wir die Diskursbereitschaft unbedingt brauchen. Wenn ich mir die momentane politische Diskurskultur anschaue, ist diese Bereitschaft nicht da – auch in der Politik und der ­Gesellschaft ist sie zu wenig vorhanden. Die Menschen müssen wieder mehr aufgerufen werden, mitzudenken und zu diskutieren.

Etwas, das die Jungen mit den Klimastreiks eindrücklich tun.

Lindenau: Genau, sie fordern uns mit ihrem Ansinnen heraus und wir müssen uns dazu verhalten. Wir können dafür oder dagegen sein, müssen aller­dings die eigene Meinung auch revidieren, wenn der eigene Standpunkt mit überzeugenden Gegenargumenten entkräftet werden kann. 

Mit welchen Fragen zu gesellschaftlichen Themen befasst sich das Zentrum für Ethik und Nachhaltigkeit hauptsächlich?

Lindenau: Wir organisieren zum einen Veranstaltungen für die Öffentlichkeit  – wie etwa die Vadian Lectures – und bieten damit eine Plattform für den Diskurs an. Zum anderen wollen wir uns künftig verstärkt mit den Fragen der politischen Ethik in Bezug auf die sozialen Fragen und die Demokratie auseinandersetzen. Die Demokratie scheint nicht mehr das unumstrittene politische Modell zu sein. Davon bleiben auch stabile Systeme, wie jenes der Schweiz nicht unberührt, da sich beispielsweise Fragen nach der Bedeutung der Mehrheitswahl oder den Schwächen der direkten Demokratie stellen. 

Welche Rolle spielt die Ethik grundsätzlich in der Hochschul­bildung und speziell an der FHS St.Gallen?

Lindenau: Sie ist unverzichtbar, denn sie kann die Studierenden befähigen, sich kritisch mit sich selbst und der Gesellschaft zu beschäftigen. Diese reflexive Grundkompetenz haben wir heute nötiger denn je. An der FHS St.Gallen absolvieren alle neuen Studierenden ein interdisziplinäres Kontextstudium in den Bereichen Politik sowie Ethik. Meiner Meinung nach wäre es wichtig, dass sich die Auseinandersetzung mit ethischen Fragestellungen durch das gesamte Studium ­aller Fachbereiche zieht.

Sie beraten auch Organisationen. Wie wichtig ist die Ethik in einer verantwortungsvollen Führung? 

Lindenau:  Auch hier ist die Ethik unabdingbar. Das beginnt schon beim Selbstverständnis der Führungsperson: Verstehe ich mich als Teil eines Teams? Welche Wertschätzung erfahren meine Mitarbeitenden? Suche ich nach gemeinsam getragenen Entscheiden? Eine gute Führungs­person würde sich zunächst der Macht ­ihrer Führungsposition bewusst werden, sich für ihre Mitarbeitenden en­gagieren, aber auch Konflikte nicht scheuen und eine Atmosphäre schaffen, die von gegenseitigem Respekt getragen ist. So kann eine Arbeits­situation entstehen, in der Führungsperson und Mitarbeitende sich akzep­tieren und um die bestmöglichen Entscheidungen ringen.

Die Vadian Lectures haben einen festen Platz in der FHS-Agenda. Thema dieses Jahres ist: «Schöne neue Welt? Zwischen technischen Möglichkeiten und ethischen Herausforderungen». Wie viel Technologie verträgt der Mensch? 

Lindenau: Wir müssen genau hinschauen und entscheiden, was wir wollen und was nicht. Weder Hysterie noch naive Technikgläubigkeit bringen uns weiter. Wenn beispielsweise sogenannte Exo-Skelette entwickelt werden, die es bis anhin querschnittgelähmten Menschen ermöglichen, ein paar Schritte zu tun, ist das super. Wenn aber algorithmisches Entscheiden zum Nonplusultra in allen Bereichen unseres Lebens stilisiert wird, kann das gefährlich sein.

Was braucht unsere Gesellschaft, um zukünftige ethische Her­ausforderungen zu meistern?

Lindenau:  Das Wichtigste wäre, wir alle – unabhängig von politischen Standpunkten und Weltanschau­ungen – würden die Bereitschaft ent­wickeln, uns irritieren zu lassen, ­eigene Positionen und die von anderen zu reflektieren und uns wertschätzend in die Diskussionen zu begeben, um Probleme zu lösen und nicht, um recht zu behalten.

Prof. Dr. Mathias Lindenau, Leiter Zentrum für Ethik und Nachhaltigkeit ZEN-FHS

Prof. Dr. Mathias Lindenau ist Leiter des Zentrums für Ethik und Nachhaltigkeit ZEN-FHS. In Kürze erscheint die Buchpublikation Band 5 der Vadian Lectures zum Thema «Menschenrechte und Menschenwürde. Vier thematische Einblicke».

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