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Brennpunkt

Vier gewinnt: Vier Menschen, vier Wände

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Claudia Züger

Die Tücken des Zusammenlebens sind ohnehin zahlreich. Wenn Unbekannte aus verschiedenen Kulturen plötzlich zu Mitbewohnern werden, scheint der Haussegen strapaziert. Ob dem so ist? – Ein Besuch in einer ungewöhnlichen Wohngemeinschaft.

«5th floor» steht auf dem Klingelschild. Gemeint ist die Wohnung im 5. Stock eines Mehrfamilienhauses an der St.Galler Rorschacherstrasse. Die vier Wände werden Semester für Semester an Austauschstudierende der Fachhochschule St.Gallen aus der ganzen Welt vermietet. Dieses Semester steht die anonyme Beschriftung für eine Gemeinschaft von vier Menschen aus vier unterschiedlichen Nationen, die sich nicht kannten, bis sie anfangs Februar 2019 ein Bad teilten: Rawisara Udomsri aus Thailand, Miki Kinoshita aus Japan, Juan Mateo Najera aus Spanien und Jiwan Woo aus Südkorea.

Vier Incoming-Studierende

Die vier Incoming-Studierenden Rawisara Udomsri, Miki Kinoshita, Juan Mateo Najera und Jiwan Woo (v.l.n.r.) geniessen das unkomplizierte Zusammenleben in ihrer WG. (Foto: Bodo Rüedi)

Über knarrende Stufen eines engen, steilen Treppenhauses erreicht man ihr temporäres Zuhause. Auf den ersten Blick wirken die Räume kühl und unpersönlich. Die Zimmer sind an den Türen von eins bis vier nummeriert, ein Feuerlöscher springt einem als einziger Farbtupfer ins Auge. Das kleine Wohnzimmer ist dunkel und spartanisch möbliert: Ein kleines Zweier-Sofa, eine Decke, ein Couchtisch, ein leeres Gestell, ein in die Jahre gekommener Fernseher. Staubsauger und Putzutensilien stehen zum Einsatz bereit. Nach persönlichen Gegenständen sucht man vergebens.

Leben in allen Winkeln

Das offensichtliche Herz der Wohnung und der Mittelpunkt des Geschehens ist die Küche. Sie ist nicht aufgeräumt, aber sehr einladend. Hier spürt man den Puls des WG-Lebens in jedem Winkel des kleinen Raumes. Ein überproportional grosser Tisch ist noch bedeckt mit den Überbleibseln des Frühstücks und einem iPad. Alle anderen Ablagen und Möbel sind ebenfalls mit Lebensmitteln verstellt. In der Küche wird gekocht, gelernt, genetflixed, diskutiert und Bier getrunken. Und ab und zu auch gefeiert. Die Nachbarn hätten sich aber noch  nie über Lärm beklagt, berichtet der Hausherr mit einem Augenzwinkern.

Ein eindrücklich grosser Sack Thai Jasmine Reis, zwei Reiskocher auf engem Raum, «crispy fish with chilli» aus Thailand und eine Flasche Oyster Sauce lassen erahnen, dass hier keine «Migros-Kinder» wohnen.

Ob sich die kulturellen Unterschiede auch im Alltag bemerkbar machen? Die vier Austauschstudierenden zögern sehr lange, bevor sie antworten. Fast so, als wäre die Frage unklar. Oder unsinnig? Schliesslich antwortet Juan: «Sehr viel weniger als erwartet.» Am ehesten erkenne man die unterschiedlichen Wurzeln bei den Essgewohnheiten. Hier bestätigen sich Klischees, die überholt scheinen: Der Spanier isst spät und vorzugsweise Schinken, die drei Frauen essen oft und gerne Reis. Keine unüberwindbaren Differenzen also. Es ist offensichtlich, dass die vier ein starkes Team sind. Sie wirken vertraut, ihr Lachen steckt an. Vom anfänglich kühlen Eindruck des fünften Stockwerks ist nichts mehr zu spüren.

Regel #1: Keine Regeln

Auch wenn sie die gemeinsame Zeit als Gruppe schätzen, planen die Mitbewohner dafür keine festen Zeitfenster ein. Ihr Zusammenleben ist pragmatisch, spontan und unkompliziert: Will man Gesellschaft, setzt man sich in die Küche. Ist niemand da, klopft man an eine Zimmertüre. Will man allein sein, öffnet man die Türe nicht. Ob da die Privatsphäre nicht etwas auf der Strecke bleibt? Verständnisloses Kopfschütteln. Gerade weil sie das Zusammensein mit verschiedenen Menschen schätzten, hätten sie sich für ein WG-Zimmer entschieden. Ihre Wahl haben die vier Musketiere bisher nicht bereut: Kein Knatsch um den Abwasch, kein Kampf um das letzte Joghurt. Dafür seien sie sehr dankbar, zumal andere Austauschstudierende von weniger romantischen Erlebnissen berichten. Nach Regeln, Plänen und Einkaufslisten sucht man vergeblich. Alle beteiligen sich am Haushalt, die Kosten für kleinere gemeinsame Besorgungen wie Öl, Abfallsäcke und Putzmittel werden aufgeteilt. Dafür legen sie  Geld in einen abgegriffenen Papierumschlag, den sie in einer Küchenschublade aufbewahren. Müssen Entscheide gefällt werden, findet die Gruppe meist schnell einen Konsens. Die Frage nach einem speziellen Entscheidungsverfahren ist offensichtlich überflüssig.

Von Fremden zu Freunden

Alle vier haben zuvor bereits WG-Erfahrungen gesammelt. Nicht nur positive. Es spiele dabei keine Rolle, ob man mit Menschen aus unterschiedlichen oder gleichen Kulturen zusammenwohne. Vielleicht liegt das Geheimnis des geraden Haussegens auf dem fünften Stock gerade darin, dass sich die Mitbewohner weder kannten noch auserwählt haben, bevor sie Freunde wurden.