Brennpunkt
Brücken bauen zwischen Kulturen
Andrea Sterchi
Vom Kindergärtner bis zur Hochschuldozentin, vom Wirtschaftsmanager zur Pflegefachfrau – heute treffen wir in jedem Berufsfeld auf andere Kulturen. Um die kulturübergreifende Zusammenarbeit wirksam gestalten zu können, braucht es interkulturelle Kompetenz. Christa Uehlinger ist Cultural Mentor und Dozentin für interkulturelle Kommunikation an der Fachhochschule St.Gallen. Sie lehrt die Studierenden das Brückenbauen zwischen verschiedenen Kulturen. Im Interview spricht sie darüber, was interkulturelle Kompetenz ist und wie sich die Studierenden diese aneignen. Und sie verrät, wie man sich in einem fremden Umfeld am besten verhält.
Frau Uehlinger, Sie waren gerade vier Monate lang in den USA. Sie kennen Land und Leute von Ihren vielen Aufenthalten. Als interkultureller Coach kann Sie da nichts mehr überraschen, oder?
Christa Uehlinger: Doch. Auch bei diesem Aufenthalt sind mir wieder einige Dinge klar geworden. Interkulturelle Kompetenz lernt man ja nicht einfach in einem Webinar. Es ist ein lebenslanger Lernprozess, der viel Selbstreflexion enthält. Man taucht in immer tiefere Schichten der Kultur ein.
Was tun Sie als interkultureller Coach?
Uehlinger: Jeder ist durch seine Kultur geprägt. Das zeigt sich in unseren Verhaltens-, Denk- und Kommunikationweisen. Ein interkultureller Coach hilft den Menschen zu verstehen, woher ihr gegenüber kommt und wie sich diese Prägung zeigt. Dann können sie dieses Verständnis nutzen, um wirksamer zusammenzuarbeiten. Kann man die kulturelle Prägung nicht richtig einordnen, kommt es zu Missverständnissen. Es geht darum, Brücken zu bauen, um mit Unterschieden und Gemeinsamkeiten umzugehen. Ich vergleiche das immer mit einem Tanz. Es liegt viel Potenzial darin. Ich helfe den Menschen, dieses Potenzial zu erkennen und zu nutzen.
Können Sie ein Beispiel geben?
Uehlinger: Ich habe einmal einen Schweizer gecoacht, der in einem japanischen Verwaltungsrat sass. Er verstand nicht, was seine Kollegen machten. Diesen ging es aber gleich. Zuerst machten wir ein Intercultural Assessment, um herauszufinden, wo er in seiner Kompetenzentwicklung steht. Damit sehe ich, wo ich als Coach ansetzen muss. Danach bestand das Coaching aus Inputs und Beratung. Das Ziel war, dass er seine eigenen Lösungen finden kann. Wir arbeiteten viel an seiner eigenen Kultur und kombinierten es mit Inputs zur japanischen Kultur. Nur wenn man die eigene Kultur entdeckt, die ja meist unbewusst ist, kann man immer besser die Unterschiede und Gemeinsamkeiten erkennen. Dank des Coachings wurde er ein sehr guter Brückenbauer und nutzte das Potenzial der Kultur erfolgreich im Geschäftsalltag.
Und wie vermitteln Sie den Studierenden interkulturelle Kompetenz?
Uehlinger: Für unsere internationalen Projekte haben wir eigens einen Prozess entwickelt mit Ziel, dass die Studierenden Kultur für bessere Resultate nutzen können. Das interkulturelle Mentoring startet mit einer Vorbereitungsaufgabe. Damit bereiten sich die Studierenden auf das interkulturelle Training vor. Im Training selbst erhalten sie kulturelle Inputs, analysieren das Team kulturell, machen Übungen zwecks Teambuilding und entwickeln Zusammenarbeitsregeln. Ziel ist die Sensibilisierung auf die vorhandenen kulturellen Unterschiede im Team. Die Studierenden müssen auch Zeit ausserhalb des Projekts miteinander verbringen, um sich persönlich kennenzulernen. Ein gemeinsames Mittagessen in der Mensa zählt nicht. Im Mid-Project-Assignment reflektieren die Studierenden individuell, wie sie die Teamarbeit erleben, wie integriert sie sich fühlen und ähnlich. In einem Teamcoaching unterstützen die Mentors die Studierenden, Lösungen zu finden und die kulturübergreifende Zusammenarbeit zu verbessern. Im Final Assignment geht es darum, sich bewusst zu werden, was sie gelernt haben, und den Praxistransfer zu machen.
Sie waren als Rooney Scholar an der Robert Morris University, als sich die Teams des JUSP-Projekts dort zur Final Week trafen. Was war dort Ihre Rolle?
Uehlinger: In der Final Week geht es vor allem um das interkulturelle Debriefing des Projektes. Erlebtes in den verschiedenen Projektphasen kulturell anzusehen und Erkenntnisse daraus zu ziehen.
In der Studienrichtung International Management wird Interkulturelle Kompetenz ab dem 3. Semester entwickelt.
Uehlinger: Wir verfolgen auch hier einen prozessorientierten Ansatz. Im 3. Semester eignen sich die Studierenden die Grundlagen interkultureller Kommunikation an, die danach bis ans Ende des Studiums angewandt werden. Danach gehen sie ins Exchange Semester. Wie die Forschung zeigt, braucht es Interventionen, um interkulturell kompetenter zu werden. Ein Auslandaufenthalt alleine reicht nicht. Unsere Studierenden absolvieren deshalb vor ihrem Auslandaufenthalt den Pre-Departure-Workshop. Hier bereiten sie sich auf die Gastkultur vor, definieren ihre persönlichen Ziele und setzen sich mit dem Kulturschock sowie interkulturellen Lernstrategien auseinander.
Und was passiert während ihres Exchange Semesters?
Uehlinger: Etwa in der Hälfte reflektieren die Studierenden, wo sie stehen, überprüfen ihre Ziele, setzen sich mit erlebten Situationen kulturell auseinander und bereiten sich auf die Rückkehr vor. Wieder zurück schreiben sie den Exchange Report, in dem weitere interkulturelle Fragen enthalten sind. Mit diesem fortlaufenden Reflektieren machen wir gute Erfahrungen. Im letzten Semester lernen im Modul GREL, Global Relations, mehr über Globalisierung und Kultur. Zusätzlich machen sie ein internationales Praxisprojekt. Dieser integrierte Ansatz ist in der Schweiz einzigartig.
Und wie zufrieden sind Sie mit Ihren Studierenden?
Uehlinger: Es ist immer spannend zu beobachten, welche Entwicklung sie machen. Wir begleiten das mit dem Intercultural Development Inventory. Dieses Assessment machen die Studierenden im dritten und im letzten Semester. So sehen wir und sie, wie sich ihre interkulturelle Sensibilität entwickelt. Wir können stolz sagen, dass der beschriebene Ansatz Wirkung zeigt.
Interkulturelle Kompetenz braucht es überall. Das schreiben Sie in Ihrem Essay. Braucht es eine andere interkulturelle Kompetenz ja nach Berufsfeld?
Uehlinger: Nein, es ist eine Grundkompetenz wie man mit dem «Fremden» umgeht. Allerdings sind die Folgen anders. In der Wirtschaft kann ein interkulturelles inkompetentes Vorgehen finanzielle Verluste nach sich ziehen. Im Pflegebereich verschlechtert sich vielleicht der Zustand des Patienten und im Bildungsbereich kann es Auswirkungen auf das Lernen haben. Interkulturelle Kompetenz ist die Fähigkeit mit Menschen aus anderen Kulturen wertschätzend, reflektiert und wirksam umzugehen. Das bringt einen Mehrwert.
Was verändert die Entwicklung interkultureller Kompetenz bei einem selbst?
Uehlinger: Da es ein lebenslanger Lernprozess, entwickeln wir sie nicht von heute auf morgen. Über die Zeit entdeckt man immer mehr Feinheiten und wird auch entspannter im Umgang mit anderen Kulturen. Ein wichtiger persönlicher Schritt ist es, aus der Wertung herauszukommen und hinzuschauen. Natürlich gelingt uns das nie ganz. Aber wir merken, wenn wir zu werten beginnen und können dann überprüfen, ob es der andere auch so sieht. Meiner Erfahrung nach verhalten sich die meisten Menschen in der Zusammenarbeit in bestmöglichen Absicht. Doch aufgrund der unterschiedlichen kulturellen Prägungen können die guten Absichten leicht auch in Missverständnissen enden, weil der andere die gleiche Situation unterschiedlich wahrnimmt. Ein Beispiel sind kurze oder lange E-Mails. Der Amerikaner schreibt nach einer Weile nur noch ein, zwei Sätze, ohne Anrede und freundliche Grüsse. Beim ersten Mal stutzte ich und fragte mich, was los sei, bis ich realisierte, dass es einfach seine Art ist. Die eigenen emotionalen Reaktionen sind wichtige Indikatoren, dass meine eigene Kultur und damit meine Komfortzone, in der ich weiss, wie die Welt tickt, herausgefordert wird.
Wo liegt denn die grösste Herausforderung in der Entwicklung interkultureller Kompetenz?
Uehlinger: Zu merken, dass man interkulturelle Kompetenz nicht klassisch lernen kann. Es ist ein Zusammenspiel von Wissen, Fähigkeiten und Einstellungen. Ziel ist, sich von einer oftmals ethnozentrischen Grundhaltung «meine Kultur ist die einzig richtige» zu einer ethnorelativen Grundhaltung «Ich anerkenne, dass deine Kultur genauso komplex ist wie meine. Keine ist besser oder schlechter, sie ist einfach anders» zu entwickeln. Ganz wichtig auf diesem Weg finde ich die Fähigkeit präsent zu sein – für sich selbst und für den anderen.
Wie meinen Sie das?
Uehlinger: Präsent sein bedeutet: zuhören, auf den anderen oder sich selbst wirklich eingehen und beobachten. Das sind Kernaspekte. So können wir die kulturellen Hinweise mehr und mehr erfassen. Über das Beobachten der eigenen Reaktionen lernen wir über unsere Kultur. Deshalb rate ich meinen Studierenden vor einem Austausch: im Unterricht zunächst mal sitzen, schweigen, beobachten. Und das die ersten zwei, drei Tage lang. So beginnen sie zu erkennen, wie das neue Umfeld «tickt» und treten nicht gleich in ein Fettnäpfchen
Spieltipp
Uehlinger, Christa/Lampalzer, Hans/Schrackmann, René. Crazy Business Stories 3. 50 verrückte interkulturelle Rätselgeschichten. Versus Verlag Zürich. ISBN 978-3-03909-163-8.
Uehlinger, Christa/Lampalzer, Hans/Schrackmann, René. Puzzling Intercultural Stories. 50 challenging intercultural brainteasers. Versus Verlag Zürich. ISBN 978-3-03909-183-6.
Buchtipp
Uehlinger, Christa. Miteinander verschieden sein – interkulturelle Kompetenz als Schlüssel zur global vernetzten Welt, 2. Auflage, Versus Verlag Zürich. ISBN 978-3-03909-233-8.