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«Fragt die Kinder, aber hört ihnen auch zu!»

Lea Müller

Kinder sind nicht einfach ­«nur» kleine Menschen, sondern Personen mit eigenen Rechten. Seit genau 30 Jahren herrscht darüber weltweit Einigkeit – 1989 wurde die  UN-Kinderrechtskonvention verabschiedet. Ein Gespräch mit Kindesschutzexpertin Regula Flisch über die Situation in der Schweiz, über Kinder, die ihre Rechte einfordern, und über Fachpersonen, die lernen, ihnen zuzuhören.

Frau Flisch, Kinder haben Rechte, darüber besteht Konsens. Aber kennen sie diese überhaupt? 
Regula Flisch: Kinder in der Schweiz kennen ihre wichtigsten Rechte. Dass sie zum Beispiel ein Recht auf Schulbildung haben, ein Recht auf ­Familie und Freizeit und auch auf die Privatsphäre.

Und wo erfahren sie davon?
Flisch: Diese Grundrechte lernen  sie spätestens in der Schule kennen. Die meisten Kinder können aber nur drei bis vier Rechte benennen. Durch die aktuellen Klimastreiks wissen auch viele Jugendliche von ihrem Recht auf eine gesunde Umwelt. Die grosse Schwierigkeit besteht meiner Meinung nach darin, dass insbesondere gefährdete Kinder ihre eigenen Schutzrechte nicht kennen.

Was braucht es denn, damit Kinder mehr über ihre Rechte wissen?
Flisch: Das Wichtigste ist eine kindergerechte Übermittlung. Es gibt zum Beispiel eine für Kinder geschriebene Fassung der UN-Kinderrechtskonvention oder Bilderbücher, welche die Kinderrechte einfach erklären. In der Schweiz besteht Nachholbedarf, wenn es darum geht, die Kinder via digitale Medien zu erreichen. Es braucht kindergerecht dargestellte Apps, Games, Videos und so weiter.

Welche elementaren Grundsätze enthält die UN-Kinder­rechts­konvention?
Flisch: Die UN-Kinderrechtskonvention umfasst 54 formulierte Rechte. Vier Artikel gelten als Grundprinzipien, die für die Umsetzung aller ande­ren Kinderrechte zentral sind:  das Recht auf Gleichbehandlung, das Recht auf Wahrung des Kindeswohls, das Recht auf Leben und persönliche Entwicklung sowie das Recht auf Anhörung und Partizipation.

Welche Kinderrechte sind in der Schweiz gut umgesetzt?
Flisch: Wir verfügen über gute strukturelle Systeme, wenn es darum geht, Kinder in schwierigen Situationen – seien sie bedingt durch Armut, Behinderung, Migration – in das Schulsystem aufzunehmen. Wir haben erreicht, dass Sans-Papiers-Kinder mit einer Sondergenehmigung eine Berufslehre machen können. Das wäre noch vor ein paar Jahren undenkbar gewesen. Wir haben funktionierende Kindesschutzsysteme und eine Kindes­- und Erwachsenenschutzbehörde, die allen Meldungen von Kindeswohlgefährdung nachgehen muss.

Aktuell verschaffen sich Jugendliche mit Klimaprotesten Gehör. Wie steht es um die politische ­Partizipation von Kindern und Jugendlichen?
Flisch: In der Schweiz wird vielerorts eine politische Partizipation gelebt. Es gibt Kinder- und Jugendparlamente in Kantonen und  natürlich auch Gruppen, die sich thematisch äussern. Kinder haben das Recht auf freie Meinungsäusserung. Und – das ist im Bezug auf den Klimawandel ganz zentral – Kinder haben ein Recht auf Leben und Überleben und somit auch das Recht auf die Erhaltung der Lebensgrundlage. Wenn unser Klima zerstört wird, betrifft das die Zukunft der Kinder. Ich finde es super, dass sie ihre Rechte einfordern und politisch Druck machen – und zwar laut. Wie sich zeigt, werden sie zunehmend auch gehört: Viele Parteien  in der Schweiz nehmen Klimaziele in ihr Parteiprogramm auf. Ich finde: Weiter so!

Wie können Kinder ihre Rechte im Justizsystem einfordern?
Flisch: Das ist gar nicht so einfach. In der Schweiz gibt es dafür seit 2008 den «Verein Kinderanwaltschaft». An diese Stelle können sich Kinder wenden, wenn sie zum Beispiel in einem Gerichtsverfahren nicht angehört werden. Hier melden sich täglich Kinder.

Steht es in der juristischen Praxis demnach nicht so gut um die Umsetzung der Kinderrechte?
Flisch: Einer der grössten Kritikpunkte ist die Umsetzung des Rechts auf Anhörung und Partizipation in Gerichtsverfahren. Für mich ist zum Beispiel der Fakt erschreckend, dass in Trennungs- und ­Scheidungsverfahren nur zehn Prozent der betroffenen Kinder angehört werden. Während die Eltern stark einbezogen sind, werden die Kinder meistens vor vollendete Tatsachen gestellt. Etwa so: «Du lebst jetzt bei deinem Mami, und deinen Papi siehst du alle zwei Wochen.» Das Kind hätte vielleicht eine ganz andere Idee gehabt, wie die neue Familien­situation aussehen könnte. 

Kinder sollten mitentscheiden können?
Flisch: Es geht nicht darum, die Kinder entscheiden zu lassen, sondern sie nach ihrer Meinung zu fragen und – ganz wichtig – auch zuzu­hören. Ich habe das selber als Beiständin von Kindern bei Fremdplatzierungen erlebt. Da war zum Beispiel der Wunsch, lieber in einer Pflegefamilie als im Heim platziert zu werden. Oder der Wunsch, als Geschwister zusammenbleiben zu können. Wenn man sich die Zeit nehmen kann, den Kindern genau zuzuhören, findet man bessere Lösungen. Denn die Kinder sind es, die letztlich mit unseren Entscheidungen leben müssen.

Wie können die zuständigen Fachpersonen das Zuhören verbessern?
Flisch: Meine Erfahrung im Austausch mit Fachpersonen der juristischen Praxis zeigt, dass das Bewusstsein für den Einbezug der Kinder wächst, aber das richtige Werkzeug noch fehlt. Mehrere Bildungsinstitutionen haben sich des Themas angenommen und bieten Schulungen an, in welchen Fachpersonen die Gesprächsführung mit Kindern lernen. Ich selbst gebe im Rahmen des Seminars Kindes- und Erwachsenenschutz an der FHS St.Gallen Unterricht in Gesprächsführung.

An einer Tagung im November an der FHS St.Gallen tauschen sich Vertreter der juristischen Praxis über Kinderrechte aus. Was ist das Ziel?
Flisch: An unserer Tagung am 26. November gehen wir folgenden Fragen nach: Wie können kindergerechte Gerichtsverfahren gestaltet werden? Wie werden Kinder einbezogen? Und wie lassen sie sich in Gerichtsverfahren vor Diskriminierungen schützen? Das Ziel ist, dass Kinderrechte im Berufsalltag nicht Worthülsen bleiben. Wir befassen uns auch mit Best Practices. Etwa mit Gerichtsverfahren im Ausland, in welchen Kinder wie selbstverständlich angehört werden.  Mein Wunsch ist es, dass das auch in der Schweiz ­irgendwann Standard ist.

Wie beurteilen Sie insgesamt die  Umsetzung der UN-Kinderrechtskonvention in der Schweiz?
Flisch:Wir sind generell auf einem guten Weg, weil die Behörden sensibilisiert sind und den Handlungsbedarf anerkennen. 2020 wird die UNICEF in Zusammenarbeit mit Kindern einen Schattenbericht zur Umsetzung der UN-Kinderrechtskonvention erstellen. Daraus werden wir wieder neue Massnahmen ableiten können.

Wo sehen Sie bereits heute Handlungsbedarf?
Flisch: Es gibt verschiedene Ansätze. Meiner Meinung nach sollte ein Augenmerk besonders auf dem Kindesschutz liegen. Wir müssen stärker auf die Rechte von fremdplatzierten Kindern aufmerksam machen. Hierzu arbeite ich  als Vertreterin der FHS St.Gallen in der Gruppe «Quality 4 Children» mit. Im vergangenen Jahr haben wir dem Bundesrat in einem Brief die Situation von Flüchtlingskindern in Asylunterkünften beschrieben. Teils wohnen jugendliche Mädchen und Jungs mit Erwachsenen unter einem Dach und vor Ort ist keine sozialpädagogische Betreuung gewährleistet. Wir fordern eine Untersuchung. Weiter macht sich UNICEF stark dafür, dass Jugendliche nicht mit Erwachsenen zusammen inhaftiert werden dürfen. Das ist vor allem in der Ausschaffungshaft ein grosses Thema. Hier hinkt die Schweiz im Vergeich zu anderen Ländern hinterher.

Weitere Informationen unter www.fhsg.ch/kesb.

Regula Flisch, Dozentin Fachbereich Soziale Arbeit, FHS St.Gallen

Regula Flisch ist Dozentin im Fachbereich Soziale Arbeit der FHS St.Gallen und leitet die Seminarreihe «Kindes- und ­Erwachsenenschutz». Sie ist Vertreterin der FHS St.Gallen in der Schweizer Fachgruppe «Quality 4 Children». 

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