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Die «Third Mission» als Teil der DNA

Lea Müller/Andrea Sterchi

Für Sebastian Wörwag sind es die Menschen mit ihrer Leiden­schaft und ihrem täglichen Engagement, die die FHS ausmachen. Ein Gespräch mit dem abtretenden Rektor über den Auftrag einer zeitgemässen Fachhochschule, den doppelten Impact, den die FHS für die Ostschweiz leistet, und eine Kultur des Gelingens. 

Herr Wörwag, wie sieht für Sie die ideale Fachhochschule aus?
Sebastian Wörwag: Eine ideale Fachhochschule erfüllt einen mehrfachen Auftrag im Sinne der Gesellschaft. Dazu gehört erstens die Bildung von Fachkräften auf Stufe Bachelor und Master, die in der Praxis Impulse ­liefern und ihre Profession sowie ihr Handlungsfeld weiterentwickeln können. Zweitens soll sie einen Beitrag leisten, wichtige und übergeordnete gesellschaftliche Fragen zu beantworten. So kann sie einer Gesellschaft neues ­Wissen, Orientierung, Sicherheit und Vorhersehbarkeit vermitteln, wie man mit dem gesellschaftlichen Wandel umgeht. Und drittens sollte sie als Akteurin im Wissenschaftssystem neues, relevantes Wissen generieren, das von der Wissenschaft aufgenommen und weiter­verwendet werden kann.

Wie erreicht eine Fachhochschule dies?
Wörwag: Indem sie schnell ist, vorausdenkt und fähig ist, gute, valide Antworten auf gesellschaftliche Herausforderungen zu geben. Eine moderne Fachhochschule muss einerseits flexibel und agil sein, andererseits eine ausgewiesene Expertise besitzen, diese Herausforderungen fundiert zu bearbeiten und die heutigen kom­plexen Fragen mehrperspektivisch zu beant­worten. Eine gute Fachhochschule verbindet zukunftsgerichtete Bildung und anwendungsorientierte Forschung mit den unterschied­lichen Praxen in Wirtschaft und Gesellschaft. Das unter­scheidet sie von Universitäten.

Können Sie das genauer erklären?
Wörwag: Fachhochschulen stehen in einem lebendigen und dichten Inter­aktionsverhältnis mit der Gesellschaft. Man nennt dies, nebst Bildung und Forschung, die «Third Mission». Diese ist primär der gesellschaftlichen Wirkung aller Hochschulleistungen verpflichtet. Man sieht das beispielsweise gut in der Forschung: Diese findet für und mit unterschiedlichen Gesellschaftsschichten statt, auch jenen, die normalerweise schwer erreichbar sind. Wie vulnerable Personengruppen, die Gefahr laufen, von der Gesellschaft nicht beachtet zu werden. Das nennt man «Engaged Research» und bedeutet schliesslich, ­Verantwortung für die ganze Gesellschaft zu über­nehmen.

Haben Sie dafür ein Beispiel? 
Wörwag: Ein gutes Beispiel sind sogenannte «Living Labs». Dabei wird in einem national koordinierten Forschungsnetzwerk, bei dem wir die Leitung haben, an Produkten geforscht, die ältere Menschen in ihrer Selbständigkeit in den eigenen vier Wänden unter­stützen sollen. Statt diese Produkte in alltagsfremden Laborumgebungen zu testen, werden sie in realen Haus­halten zur Verfügung gestellt und damit alltagstypische Verwendungen, Chancen und Risiken erforscht. So können reale Forschungssettings entwickelt werden. Wir erreichen viele Haushalte in ihrer natürlichen Umgebung und beziehen die spätere Nutzergruppe früh in die Forschung ein. Das motiviert sie und macht Forschung für die Gesellschaft anschaulich.

Prof. Dr. Sebastian Wörwag Rektor FHS St.Gallen

Sebastian Wörwag ist seit 2003 Rektor der Fachhochschule St.Gallen. Ab dem 1. September steht er der Berner Fachhochschule BFH als Rektor vor. Sebastian Wörwag wird weiterhin auch in der Ostschweiz tätig sein. Im Juni 2020 übernimmt er bei der Pädagogischen Hochschule Thurgau das Präsidium des Hochschulrats.

Und wie beeinflusst die «Third Mission» die Lehre?
Wörwag: Eine Schnittstelle zwischen Lehre und «Third Mission» ist die Art und Weise, wie sich unsere Studierenden in den Lehr-Lern-Settings mit der Praxis verknüpfen. Die Praxisprojekte und Praxiseinsätze sind Teil unserer DNA und werden in den Fachbereichen intensiv gelebt. Von der Gesundheit mit den Praxiseinsätzen in den Spitälern bis zur Architektur, die an konkreten Projektentwürfen arbeitet. Das geht aber noch weiter.

Inwiefern?
Wörwag: Ein Beispiel sind die Initiativen von Studierenden, die freiwillig und meist im regionalen Umfeld ihre im Studium erworbenen Fähigkeiten zur Verfügung stellen. Wenige Tage nach dem Lockdown in der Corona-Krise gründeten Studierende der Sozialen Arbeit die «Einkaufshilfen SG, AR, AI». Das ist ein schönes Beispiel für ein studentisches Engagement und eine Vernetzung mit der Gesellschaft. Solche Persönlichkeiten zu fördern, ist unsere Aufgabe. Daran sieht man, dass Bildung mehr ist als Fachausbildung. Solche Beispiele werden immer wichtiger dafür, welchen regionalen, ja doppelten, Impact eine Hochschule hat. 

Einen doppelten Impact?
Wörwag: Neben den nationalen und internationalen Beiträgen zur Entwicklung von Lösungen und Innovationen haben Hochschulen einen regionalen Auftrag. Etwa indem sie regionale Themen und Fragen aufgreifen und Lösungen entwickeln. Es geht nicht nur darum, wie viele Studierende wir als Fachkräfte ausbilden, sondern welche regionalen Netzwerke, Kooperationen und Initiativen durch die Hochschulen angeschoben werden können. Ein Beispiel ist die Initiative Startfeld, die durch unsere Hochschule mitbegründet wurde und ein innovationsförderliches Gründungsumfeld für Unternehmen in der Ostschweiz etabliert hat. Natürlich sollen Fachhochschulen einen nationalen Beitrag für grossgesellschaftliche Themen leisten, aber eben auch eine regionale Vernetzung sicherstellen. Das ist ebenfalls Teil der «Third Mission». Die Art, wie wir versuchen, mit unserem Wissen Bewegungen in Gang zu setzen, neue Lösungen und Innovationen zu entwickeln.

Und wie nimmt die FHS diese Rolle und Verantwortung wahr?
Wörwag: Die FHS verfolgt seit Jahren eine Strategie, nach der sie übergeordnete Themen von gesamtgesellschaftlicher Relevanz aufgreift und interdisziplinär bearbeitet. Nehmen wir die digitale Transformation: Wir gehen dieses Thema nicht nur aus der Möglichkeitsperspektive an, also nach dem Motto, dass alles digitalisiert werden soll, was digitalisiert werden kann. Uns interessiert auch die Frage, was sich durch die Digitalisierung in der Gesellschaft verändert. Also über­geordnete Fragen: Wie transformiert die Digitalisierung die Gesellschaft, die Arbeitswelt? Gibt es digitale Kluften? Was ändert sich in der Art des Zusammenlebens, der Kommunikation etc. Hier machen wir intensive Erfahrungen in der Corona-Krise, bei der ein Grossteil der Kommunikation und Zusammenarbeit digitalisiert und virtualisiert wurde. Dabei interessiert uns die gesellschaftliche Perspektive, etwa mit dem HR-Panel. Hier arbeiten wir mit rund 30 Unter­nehmen, Verbänden und Institutionen zur Forschung über Veränderungen in der Arbeitswelt zusammen. Auch das ist «Engaged Research».

Bildung und Forschung sind beide ein Engagement und gehen über das Ansammeln von Wissen weit hinaus.

Wo hat die FHS etwas verändert? Was hat sie erreicht?
Wörwag: Ein Beispiel ist unsere Altersforschung. 2005 haben wir das Thema aufgenommen, weil wir sagten, es ist relevant für die Ostschweiz, für die Schweiz und letztlich für alle Gesellschaften. Der demografische Wandel wirft Fragen auf, für die wir Antworten finden wollen. Wir haben ein Kompetenzzentrum und mit dem nationalen Innovationsnetzwerk AGE-NT ein nationales Forschungsfeld gegründet, bei dem wir im Lead sind. Unser Impact ist, dass wir jetzt in den Themenfeldern Demenz und AAL wesentliche Beiträge zur Beantwortung der Frage leisten, wie man selbstbestimmt im Alter leben und wie man auch mit der herausfordernden Situation wie einer Demenzerkrankung umgehen kann. Hier haben wir viel Wissen aufgebaut und mit der Gesellschaft teilen können. Es gibt noch andere Beispiele. Wir haben erreicht, dass die FHS befähigt ist, interdisziplinär grosse Themen aufzugreifen, vorauszudenken, mit eigener Kraft zu bearbeiten und der Gesellschaft etwas zurückzugeben.

Wie gross muss eine Fachhochschule sein, um dies einlösen zu können? 
Wörwag: Die Grösse ist kein Gütekriterium. Soll eine Fachhochschule mehrperspektivisch sein, dann muss sie in der Lage sein, unterschied­liche Departemente oder Fachbereiche unter einem Dach zu vereinen und diese in einer bestimmten Grösse führen zu können. Wenn eine Fachhochschule zu gross, zu komplex wird, dann verhindert die Überkomplexität Schnelligkeit. Dann wird sie zu einem grossen Dampfer, der nicht mehr beweglich ist. Innerhalb dieser Spannweite ist es eher die Frage, welche Art Fachhochschule man haben möchte. Soll es eine sein, die ihren Auftrag möglichst effizient erfüllt? Das wäre ein Bürokratiemodell, das auf viele Kästchen baut, die alle miteinander verbunden sind. Infolge determiniert man quasi die ganze Fachhochschule. Für mich darf eine Fachhochschule nicht überreguliert sein.

Wieso?
Wörwag: Fachhochschulen brauchen eine Form der Unterdeterminierung bei Themen und Strukturen. Sie sind ein Ort, an dem viel Kreativität entsteht. Gerade in den Zwischenräumen, wo es noch keinen Auftrag und keine Regeln gibt, entstehen oft die kreativsten Lösungen. Wir haben dies in der fachbereichsübergreifenden Zusammenarbeit erlebt. Hier ist es gelungen, Expertinnen und Experten unabhängig ihrer Organisationszugehörigkeit zu inhaltlich interessierten Teams zusammenzubringen.

Ist das Ihr Bild einer zeit­gemässen Fachhochschule?
Wörwag: Eine zeitgemässe Fachhochschule muss für die Gesellschaft rele­vante Fragen beantworten, sodass die Gesamtgesellschaft davon profitieren kann. Dazu muss sie interdisziplinär aufgebaut sein, sie muss eine Schnelligkeit und Agilität haben, die sich in den Strukturen widerspiegelt, kulturell eher unter- als überdeterminiert sein. Sie muss an all das glauben können, was heute noch nicht ist, für uns und unsere Gesellschaft aber wünschbar wäre – in der FHS nennen wir das die «Kultur des Gelingens».

Kultur des Gelingens? 
Wörwag: Die Kultur des Gelingens fängt bei jeder und jedem selbst an mit der Frage, was man zum Gelingen einer guten Lösung beitragen kann. Damit verbunden ist eine Perspektive, bei der man sich und anderen etwas zutraut und die eigene Arbeit in den Dienst eines grösseren Ganzen stellt. Daraus entsteht eine intrinsische Motivation, oft eine Begeisterung, sich für eine sinnvolle Sache zu engagieren. Diese Begeisterung ist es, mit der die Mitarbeitenden der FHS nicht einfach einen Job machen, sondern sich leidenschaftlich in ihrem Beruf engagieren. Wenn eine Hochschule begeistert ist von dem, was sie macht, dann weckt sie auch Begeisterung in ihrem Umfeld, bei ihren Studierenden und Partnerinnen und Partnern für das Lehren, Lernen, Forschen und Kommunizieren, für neue gesellschaft­liche Fragen. Es ist eine Leidenschaft, ein Sich-engagieren-Wollen. Bildung und Forschung sind beide ein Engagement und gehen über das Ansammeln von Wissen weit hinaus.

Nach 17 Jahren verlassen Sie die FHS. Was schätzen Sie an ihr besonders?
Wörwag: Es sind die Menschen. Die FHS ist nicht mehr und nicht weniger als all die Menschen, die jeden Tag in irgendeiner Form einen Beitrag leisten, damit sie genau diese Fachhochschule ist, auf die wir heute stolz sein dürfen. Die Begeisterungsfähigkeit von all diesen Menschen, ihr Engagement, ihre Leidenschaft, das Sich-Eingeben in eine Aufgabe, das Beste zu versuchen, etwas für die Gesellschaft zu leisten. Die FHS hat eine Kultur, die ich als positiv, dialogorientiert, engagiert und wertschätzend wahrnehme. Wir sind keine Jobholder, wir sind Gestalterinnen und Gestalter der Hochschule. Jeder im gleichen Masse in seiner oder ihrer Aufgabe. 

Ist es auch das, was Sie ihr mit auf den Weg in die OST geben?
Wörwag: Ja, ich bin überzeugt, es werden immer die Menschen sein, die die Potenziale nutzen werden. Deshalb wünsche ich mir für die OST, dass sie diese Leidenschaft und die Kultur des Miteinanders fördern wird, was für mich die FHS besonders macht. Die Potenziale zwischen den drei Hochschulen und den unterschiedlichen Bereichen bedeuten eine Riesenchance. Letztlich geht es immer um den Inhalt, also den Beitrag, den die OST für die Gesellschaft leisten kann.

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